Auswirkungen von IFRS 17 «Versicherungsverträge» auf Unternehmen ausserhalb der Versicherungsbranche

Robel Ghebressilasie
Senior Manager, Accounting Consulting Services, PwC Schweiz

Corina Meier
Managerin, Accounting Consulting Services, PwC Schweiz

Die Anwendung von IFRS 17 bringt weitreichende Veränderungen für die Bilanzierung von Versicherungsverträgen. Dies gilt branchenübergreifend und ist nicht nur für Versicherungsgesellschaften relevant. Wie Industrieunternehmen vom neuen Standard betroffen sein können, veranschaulichen die Autoren anhand von einigen Praxisbeispielen.

Einleitung

IFRS 17 «Versicherungsverträge» wird am 1. Januar 2023 in Kraft treten und die einheitliche Bilanzierung von Versicherungsverträgen regeln. Im Gegensatz zu den Swiss GAAP FER, die mit der Fachempfehlung 41 die Rechnungslegung für Versicherungsunternehmen bestimmen, gilt IFRS 17 branchenübergreifend und unabhängig von der Geschäftstätigkeit des Unternehmens für alle Verträge, auf welche die Definition eines Versicherungsvertrags zutrifft. Somit kann IFRS 17 auch Unternehmen ausserhalb der Versicherungsbranche betreffen.
In diesem Artikel gehen die Autoren zunächst auf die Definition eines Versicherungsvertrags ein, führen dann den Anwendungsbereich von IFRS 17 näher aus und zeigen anhand einiger Beispiele auf, wie Industrieunternehmen vom Standard betroffen sein könnten.

Definition eines Versicherungsvertrags

Ein Versicherungsvertrag ist definiert als Vertrag, bei dem eine Partei (der Versicherungsgeber) ein signifikantes Versicherungsrisiko von einer anderen Partei (dem Versicherungsnehmer) übernimmt, indem sie sich verpflichtet, den Versicherungsnehmer zu entschädigen, wenn ein bestimmtes unsicheres zukünftiges Ereignis (das versicherte Ereignis) den Versicherungsnehmer beeinträchtigt (IFRS 17 App. A). Bei Versicherungsverträgen ist das vertraglich übernommene Risiko ein Versicherungsrisiko. Hierbei handelt es sich nicht um ein finanzielles Risiko (IFRS 17.B8), sondern um die mögliche Änderung einer nichtfinanziellen Variablen, die für eine Vertragspartei spezifisch ist. Die Definition von Versicherungsrisiken nach IFRS 17 schliesst finanzielle Risiken (wie bspw. Zinssatzänderungen oder Wechselkursschwankungen) und für eine Vertragspartei unspezifische Risiken (wie etwa das Wetter) aus. Typische Beispiele für Versicherungsrisiken sind Erkrankung, Unfall oder Einbruchdiebstahl. Das Versicherungsrisiko ist dann als signifikant einzuschätzen, wenn die potenzielle Zahlung bei Eintritt des Versicherungsfalls wesentlich höher ist als bei Nichteintritt dieses Ereignisses (IFRS 17.B18). Dabei bezieht sich die Beurteilung auf ein unsicheres zukünftiges Ereignis. Die Unsicherheit des Ereignisses kann grundsätzlich auf drei Arten auftreten: Eintretenswahrscheinlichkeit, Zeitpunkt des Eintritts und Höhe der resultierenden Entschädigungszahlung bei Eintritt des Ereig nis ses (IFRS 17.B3). Zudem muss im Falle des Schadeneintritts ein Verlust für den Versicherungsnehmer entstehen (IFRS 17.B19).
Bei einem Vertrag, der alle Kriterien der Definition erfüllt, handelt es sich um einen Versicherungsvertrag im Anwendungsbereich von IFRS 17, der grundsätzlich nach den Bilanzierungsregelungen des neuen Standards zu erfassen ist. Typische Beispiele sind Lebensversicherungen und Versicherungen gegen Produktehaftung oder Beschädigung (IFRS 17.B26).

Anwendungsbereich

Der neue Standard enthält einige Begrenzungen des Anwendungsbereichs, damit gewisse Verträge, welche eigentlich die Definition im vorhergehenden Absatz erfüllen, nicht nach IFRS 17 bilanziert werden müssen. Bei der folgenden Aufzählung handelt es sich um die aus Sicht der Autoren wesentlichsten Ausschlüsse:

  • Die Bilanzierungsregelungen von IFRS 17 gelten nicht für den Versicherungsnehmer, ausser es handelt sich um einen Rückversicherungsvertrag (IFRS 17.7[g]);
  • Garantieleistungen und Restwertgarantien auf Produkten oder Dienstleistungen, die ein Unternehmen im Zusammenhang mit dem Verkauf seiner Waren oder Dienstleistungen an Kunden gewährt (IFRS 17.7[a], IFRS 17.7[d]);
  • Restwertgarantien, die in einen Leasingvertrag eingebettet sind (IFRS 17.7[d]);
  • finanzielle Garantien im Anwendungsbereich von IFRS 9 Finanzinstrumente (IFRS 17.7[e]);
  • Verpflichtungen gegenüber Arbeitnehmenden im Rahmen von IAS 19 Leistungen an Arbeitnehmer (IFRS 17.7[b]);
  • Verträge über eine Dienstleistung zu einem fixen Preis können wahlweise unter IFRS 17 oder IFRS 15 Erlöse aus Verträgen mit Kunden bilanziert werden, sofern bestimmte Kriterien (IFRS 17.8) erfüllt sind;
  • Kreditkartenverträge und ähnliche Verträge, bei welchen keine Beurteilung des Versicherungsrisikos eines individuellen Kunden bei der Festlegung des Preises des Vertrags erfolgt (IFRS 17.7[h]).

Erfüllt ein Vertrag eines der oben stehenden Ausschlusskriterien, ist er nicht nach den Regeln von IFRS 17 zu erfassen, sondern fällt in den Anwendungsbereich eines anderen IFRS-Standards.

Anwendungsbereich von IFRS 17

Abbildung: Anwendungsbereich von IFRS 17

Praxisbeispiele1

Nachstehend soll anhand einiger Praxisbeispiele veranschaulicht werden, wie IFRS 17 für Industrieunternehmen relevant sein könnte. Für die unternehmensspezifische Implementierung von IFRS 17 ist eine Identifikation und sorgfältige Analyse der eingegangenen Verträge zentral.

Oftmals offerieren Unternehmen neben ihrer Hauptleistung auch Nebenleistungen. Klassische Beispiele sind Handyversicherungen gegen Diebstahl, Reiseversicherungen gegen unverschuldetes Nichtantreten einer Reise oder Transportversicherungen bei der Autovermietung. Hierbei ist es wichtig zu unterscheiden, ob das Unternehmen als Prinzipal oder als Agent für ein Versicherungsunternehmen agiert. Üblicherweise besitzt der Prinzipal die Verfügungsgewalt über die Nebenleistung und beauftragt den Agenten mit der Ausführung der Leistung (IFRS 15.B35–B36). Indikatoren für die Identifikation von Prinzipal und Agent können u. a. die primäre Verantwortung und die Festlegung des Preises der zu erfüllenden Leistung sein (IFRS 15.B37). Handelt das Unternehmen als Agent, fällt die Nebenleistung nicht in den Geltungsbereich von IFRS 17, sondern ist i. d. R. nach IFRS 15 zu verbuchen. Wirkt das Unternehmen als Prinzipal, sind weitergehende Überlegungen anzustellen. Etwa hat sich das Unternehmen damit auseinanderzusetzen, ob die Definition eines Versicherungsvertrags erfüllt ist und ob ein Ausschlussgrund aus dem Anwendungsbereich von IFRS 17 vorliegt. Konkrete Fragen in der Praxis können sein, ob das Verhältnis von Nebenzu Gesamtleistung signifikant ist oder ob es möglich ist, die Nebenleistung von der Hauptleistung abzugrenzen. Nach Einschätzung der Autoren übertragen viele Industrieunternehmen Nebenleistungen an Versicherungsgesellschaften, wodurch die Industrieunternehmen als Agenten handeln und folglich die Versicherungsleistung nicht nach IFRS 17 bilanzieren. Diese Überlegungen sind aber im konkreten Einzelfall anzustellen.

Beim Kauf eines Produkts erhält der Käufer üblicherweise eine Gewährleistung, z. B. aufgrund gesetzlicher Bestimmungen oder separat durch Zusage des Herstellers bzw. Händlers. Bspw. verspricht der Verkäufer, dass das gekaufte E-Bike oder der Fernseher einwandfrei funktioniert. Hierbei gibt es auch die Möglichkeit für ein Unternehmen, die Produktgewährleistung an einen Dritten zu delegieren. Unabhängig davon, ob der Hersteller oder Händler die Produktgewährleistung selbst übernimmt oder diese an einen Dritten überträgt, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob ein definitionsgemässer Versicherungsvertrag bei Produktegewährleistungen vorliegt oder nicht: Mit dem Verkauf des Produkts schliesst das Unternehmen einen Vertrag mit dem Käufer ab. Beim Risiko des möglichen Schadens oder Ausfalls des Produkts handelt es sich um ein Versicherungsrisiko. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass dieses in den meisten Schadenfällen signifikant ist. Im Falle eines potenziellen Schadens oder Defekts des Produkts entsteht dem Käufer üblicherweise ein Verlust, aber Wahrscheinlichkeit, Zeitpunkt und Ausmass des Eintretens sind unsicher. Folglich sind die Definitionskriterien eines Versicherungsvertrags prinzipiell erfüllt, und die Produktgewährleistung wäre nach IFRS 17 abzubilden.Allerdings schliesst IFRS 17.7(a) Garantieleistungen im Zusammenhang mit dem Verkauf von Produkten oder der Erbringung von Dienstleistungen explizit vom Anwendungsbereich des Standards aus. Solche Garantien sind vielmehr nach IFRS 15 zu bilanzieren. Dagegen fallen Garantien, welche zu einem späteren Zeitpunkt ohne Bezug zum ursprünglichen Verkauf gewährt wurden, nicht unter diesen Ausschluss vom Anwendungsbereich. Als Beispiel wird eine Garantieverlängerung von drei Jahren, welche bei Kauf eines Produktes abgeschlossen wird, nach IFRS 15 bilanziert, während eine nach dem Kauf abgeschlossene Garantieverlängerung nach IFRS 17 verbucht wird. Weiter gibt es auch Konstellationen, in denen die Garantieleistungen nicht durch das Unternehmen erbracht werden, welches die Produkte oder die Dienstleistung verkauft hat, sondern durch einen Dritten (i. d. R. Versicherungsgesellschaft). In solchen Situationen handelt das Unternehmen üblicherweise als Agent und der Dritte, der die Garantieleistung erbringt, bilanziert einen Versicherungsvertrag nach IFRS 17.

Eine Restwertgarantie ist ein Vertrag, in dem eine Partei einer anderen Partei den Marktwert eines nichtfinanziellen Vermögenswerts nach Ablauf einer gewissen Zeit garantiert: bspw. eine Garantie, eine Maschine nach fünf Jahren zu einem bestimmten Restwert zu kaufen oder dass ein Mobiltelefon nach zwei Jahren noch einen gewissen Mindestmarktwert hat. Falls nach zwei Jahren der Wert des individuellen Mobiltelefons den Marktwert unterschreitet, wird eine Ausgleichszahlung fällig. Bei der Marktwertveränderung des Vermögenswerts handelt es sich um ein Versicherungsrisiko und nicht um ein finanzielles Risiko, da auch die Beschaffenheit des Vermögenswerts mit in die Bewertung einfliesst (IFRS 17.B8). Zudem handelt es sich nicht um ein derivatives Finanzinstrument, da die Marktwertveränderung spezifisch für den Besitzer des Vermögenswerts ist (IFRS 17.B27[e]). Wie im Abschnitt «Anwendungsbereich» dargelegt, be stehen Ausnahmen für Restwertgarantien, wenn diese in den Anwendungsbereich von IFRS 15 oder IFRS 16 fallen (IFRS 17.7[d]).

Bei einem Dienstleistungsvertrag mit festem Entgelt (fixed-fee service contract) handelt es sich bspw. um einen Wartungsvertrag, mit dem sich ein Anbieter verpflichtet, einen gewissen Vermögenswert zu einem festen Preis zu warten. Als praktisches Beispiel eines solchen Vertrags lässt sich eine Pannenhilfe nennen, bei welcher die Mitglieder einen fixen Jahresbetrag zahlen sowie einen im Vorfeld festgelegten Preis für eine Dienstleistung im Falle einer Panne. Weiter treten Dienstleistungsverträge mit festem Entgelt im IT-Business, bei der Instandhaltung von Produktionsmaschinen und bei der Pflege von Heizungs- oder Lüftungsanlagen auf. Der Vertrag enthält ein Versicherungsrisiko, da unklar ist, wie oft und umfangreich die Wartungen anfallen werden, und da diese zu einem fixen Preis ausgeführt werden müssen. Falls gemäss Definition ein Versicherungsvertrag vorliegt, der Hauptzweck des Vertrags jedoch das Erbringen der Dienstleistung ist, besteht ein unwiderrufliches Wahlrecht, pro Vertrag entweder IFRS 17 oder IFRS 15 anzuwenden (IFRS 17.8). Da zu müssen die nachfolgenden Bedingungen kumulativ erfüllt sein:

  • Der Preis des Vertrags spiegelt nicht eine individuelle Risikobeurteilung der Gegenpartei wider.
  • Die Gegenpartei wird durch eine Dienstleistung entschädigt und nicht in Form einer Zahlung.
  • Das Versicherungsrisiko entsteht hauptsächlich aus der Inanspruchnahme der Dienstleistung und nicht aus der Unsicherheit der Kosten der Dienstleistung.

Falls die obigen Bedingungen nicht kumulativ erfüllt sind, fällt der Vertrag in den Anwendungsbereich von IFRS 17, und es besteht kein Wahlrecht.

Schlussfolgerung

IFRS 17 «Versicherungsverträge» ist ein branchenübergreifender Standard, der nicht nur für Versicherungsgesellschaften anwendbar ist. Wie Industrieunternehmen von der Einführung von IFRS 17 betroffen sein können, wurde im Artikel anhand einiger Praxisbeispiele veranschaulicht. Es ist zwar davon auszugehen, dass IFRS 17 für übliche Vertragskonstellationen bei Industrieunternehmen nicht anwendbar ist, jedoch gibt es einige Ausnahmefälle. Es empfiehlt sich daher für alle IFRS-Anwender, die Zeit bis zum 1. Januar 2023 für eine sorgfältige Analyse zu nutzen, inwieweit ihre Geschäftstätigkeit durch IFRS 17 tangiert wird.


1Die Praxisbeispiele wurden in Anlehnung an Ganssauge, K./Meurer, H., IFRS 17: Nicht nur ein Thema für Versicherungsunternehmen!, WPg 1/2018, S. 18 ff., zusammengestellt.


 

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