Interview mit Anna Mohl
Geht es nach Anna Mohl, könnten wir alle noch ein Stückchen gesünder leben. Dabei ist für die Chefin von Nestlé Health Science Gesundheitsvorsorge ein Zusammenspiel aus Ernährung und Technologie. Im Interview erklärt sie, wie digitale Hilfsmittel Gesundheitslücken erkennen, warum die personalisierte Ernährung immer wichtiger wird und wir ihr Unternehmen gegen die chronische Übermüdung der japanischen Bevölkerung kämpft.
Journalistin: Tabea von Ow | Fotograf: Christian Grund
Frau Mohl, mal ehrlich: Wie viele Nahrungsergänzungsmittel und Vitamine nehmen Sie täglich zu sich?
Ich wechsle gerne zwischen unseren unterschiedlichen Marken ab, darum ändert sich die Anzahl immer ein wenig. Aber ich versuche einmal zu zählen. Nach dem Sport nehme ich ein Getränk zu mir, meinen Tee reichere ich mit Kollagen an, dann nehme ich etwa acht Tabletten: Multivitamin, Omega-3, Vitamin D, Probiotika, etwas für meine Zellen, Kalzium und etwas zur Stärkung des Immunsystems. Sie sehen also: I walk the talk!
Das macht Sie zu einer grossartigen Botschafterin für Ihr Unternehmen. Aber glauben Sie, dass jeder Mensch ein vollkommen gesundes Leben führen kann?
«Vollkommen» ist ein grosses Wort. Aber ich glaube, wenn man darauf achtet, was man isst, ein bisschen plant, sich informiert und beraten lässt, kann man durchaus ein gesünderes Leben führen, sei es mittels Ernährung, Schlaf oder indem man seine mentale Gesundheit stärkt. Gesünder geht immer. Ich persönlich könnte bestimmt auch noch einiges verbessern. Mir ist aber auch wichtig, dass ich mein Gesundheitsprogramm immer wieder anpasse. Denn auch Veränderungen halten uns gesund.
«Vollkommen» ist ein grosses Wort. Aber wenn man darauf achtet, was man isst, ein bisschen plant, sich informiert und beraten lässt, kann man durchaus ein gesünderes Leben führen.»
Anna Mohl (geb. 1968) ist seit Anfang 2024 Chefin von Nestlé Health Science. Sie stammt ursprünglich aus den USA, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie hat ihr gesamtes Berufsleben in der Lebensmittelbranche verbracht, die meiste Zeit davon bei Nestlé-Tochtergesellschaften. Nebst einem Marketing-MBA der Universität Pennsylvania verfügt sie über einen Abschluss in Geschichte der Columbia Universität, den sie mit dem Prädikat «cum laude» abgeschlossen hat. Eines Tages möchte sie zum Machu Picchu reisen.
Nestlé Health Science wurde 2011 als Tochtergesellschaft des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé gegründet. Das Unternehmen stellt Nahrungsergänzungsmittel und medizinische Ernährung her, darunter Lebensmittel für Kleinkinder mit schweren Nahrungsmittelallergien, Menschen mit medizinischen Erkrankungen, ältere Menschen, die von Mangelernährung bedroht sind, sowie Vitamine, Mineralstoffe, Nahrungsergänzungsmittel und andere Verbraucherprodukte. Im Jahr 2023 erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von 6,5 Milliarden Schweizer Franken. Dies entspricht knapp 7 % des Gesamtumsatzes von Nestlé.
Mit der Fitnessuhr, die Sie tragen, stellen Sie doch schnell fest, wenn etwas nicht stimmt. Wofür brauchen Sie dann solche Vitamine und Zusätze?
Klar, mit Hilfsmitteln sammeln wir diverse Gesundheitsdaten, etwa zu Blutzucker, Wasserkonsum, sportlichen Aktivitäten, Schlafmangel, Herzfrequenz und vielem mehr. Aber anhand dieser Daten erkennen wir auch Defizite. Dort können wir dann mit Zusätzen oder Gesundheitsprodukten nachhelfen. Ich finde, die beiden Dinge ergänzen sich bestens.
Entwickeln Sie bei Nestlé Health Science bestimmte Produkte, die darauf zugeschnitten sind, mit solchen Hilfsmitteln zu interagieren?
Unser Ziel ist es, den Konsument:innen ein gesünderes Leben durch Ernährung zu ermöglichen. Und zwar durch innovative, wissenschaftlich fundierte Ernährungslösungen. Die Kombination solcher Ernährungslösungen mit digitaler Technologie ist eine grosse Chance.
«Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel ergänzen sich bestens mit digitalen Hilfsmitteln.»
Können Sie das genauer erklären?
In Japan haben wir zum Beispiel zusammen mit Fitbit und Google eine Art Gesundheitsökosystem entwickelt. Die Menschen in Japan schlafen häufig kurz und schlecht – und das ist ein grosses Problem, denn Schlafmangel wirkt sich auf die Leistung und mentale Gesundheit aus, erhöht die Gefahr von Unfällen, Burnouts und so weiter. Wir haben also das Programm auf drei Pfeilern aufgebaut: Zunächst wird der Schlaf einer Person mit einem Fitbit-Gerät aufgezeichnet. Damit erhalten Nutzer:innen auf der Grundlage der Fitbit-Daten einfache, konsumentenfreundliche Informationen darüber, wie sie ihren eigenen Schlaf verbessern können. Und wir steuern ein Nahrungsergänzungsmittel bei für besseren Schlaf. Ich finde, das ist ein grossartiges Beispiel dafür, wie man nicht nur Technologie einsetzt, sondern Technologie mit Information und einer konkreten Produktlösung verbindet, damit die Konsument:innen ihr Verhalten ändern und hoffentlich ihre Gesundheit verbessern können.
Technologie spielt bestimmt auch eine grosse Rolle in Ihrer Fertigung...
Selbstverständlich, und der Einsatz von Technologie nimmt ständig zu. Wenn wir zum Beispiel in einer Fabrik neue Geräte oder Technologien einsetzen, entwickeln wir zuerst einen «digitalen Zwilling» davon. So können unsere Mitarbeitenden die neue Umgebung bereits testen, an den Geräten geschult werden und wir können anhand ihrer Erfahrungen Änderungen vornehmen, bevor wir das Ganze dann in der echten Fabrik einsetzen. Das kann zum Beispiel sein, dass die Geräte ergonomischer oder einfacher in der Handhabung gestaltet werden. Die grösste Auswirkung auf unsere Arbeit hat aber die sogenannte «End-to-End-Datenintegration und -Konnektivität».
Was bedeutet das genau?
In der Vergangenheit waren Daten an Standorte gebunden. Eine Maschine hatte ihre Daten, eine Fabrik hatte ihre Daten. Mit der KI und der zunehmenden Rechenleistung können wir nun all diese Daten zusammenführen. Das gibt uns mehr Transparenz und Genauigkeit – und zwar in der gesamten Wertschöpfungs- und Lieferkette. Wir können alles nachverfolgen: Was wurde wo und wann hergestellt, welche Zutaten stammen von welchem Lieferanten, welches Verfallsdatum gibt es… Diese Art von durchgängiger Verbundenheit gibt uns und allen anderen in der Branche einen Vorteil. Auch was die Nachhaltigkeit betrifft, denn die Nutzung von Daten und Technologien kann uns helfen, weniger Ressourcen wie Wasser, Strom oder Plastik zu verbrauchen. Davon profitieren auch unsere Kund:innen und Mitarbeitenden.
Setzen Sie auch Roboter ein?
Für die Herstellung einiger unserer flüssigen Nahrungsergänzungsprodukte setzen wir sogenannte «Cobots» ein. Das sind im Grunde Roboter, die mit den Menschen zusammenarbeiten und sie unterstützen. Sie sind viel flexibler als die ältere Generation von Geräten, die nur einen Zweck hatten.
«In der Vergangenheit waren Daten an Standorte gebunden. Mit KI und zunehmender Rechenleistung können wir nun all diese Daten zusammenführen und erhalten Transparenz über die gesamte Wertschöpfungs- und Lieferkette.»
Inwiefern?
Früher konnten diese Geräte nur eine Aufgabe erledigen. Heute können wir sie für verschiedene Aufgaben in unterschiedlichen Produktionslinien einsetzen. Zudem reagieren sie auf die Bewegungen von Personen und sind dadurch wie ein Paar helfende Hände an der Seite der Beschäftigten. Zurzeit helfen sie uns zum Beispiel bei der Verpackung.
Braucht es denn überhaupt noch Menschen in Ihren Fabriken, wenn die Roboter so viele Aufgaben übernehmen können?
Technologie ersetzt die Menschen nicht. Sie verändert einfach deren Arbeitsweise. Monotone, sich wiederholende Arbeiten übernehmen für uns die Roboter. Stattdessen können wir die Bediener:innen darin schulen, wie man die Daten liest und interpretiert, wie man planen und die Produktion anpassen kann. Wir brauchen die Menschen, um die Parameter zu setzen, mit denen die Maschine arbeiten soll. Und natürlich sind die menschlichen Augen, Ohren und die Intelligenz, die in den Fabriken benötigt werden, durch nichts zu ersetzen.
«Die Technologie wird uns helfen, die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen wirklich zu verstehen.»
Welche technologischen Entwicklungen werden Ihrer Meinung nach denn in Zukunft den grössten Einfluss haben in der Gesundheitswissenschaft?
Da gibt es eine Menge. Sehr aufregend finde ich zum Beispiel, dass uns Technologie neue Inhaltsstoffe oder Inhaltsstoffe mit neuen Eigenschaften erschliessen kann. Ich glaube auch, dass uns Technologie helfen wird, wirklich zu verstehen, was jeder einzelne Mensch braucht. Zwar können wir heute unsere Gesundheit tracken und überwachen, aber zu wissen, welches das richtige Gesundheitsprogramm ist für uns oder wie wir unser Verhalten ändern, ist schwierig. Und ich denke, dass wir bei der Durchführung von wissenschaftlichen und klinischen Studien dank Technologie besser werden.
Was meinen Sie damit?
Während der Coronapandemie haben wir gelernt, dass man auch virtuelle klinische Studien durchführen und eine digitale Schnittstelle nutzen kann, um ein grösseres geografisches Gebiet zu erschliessen. Wenn man eine bestimmte Patienten- oder Konsumentenpopulation erreichen will, kann man die Daten sehr einfach erfassen. Da die Daten elektronisch und nicht auf Papier erfasst werden, ist die Fehleranfälligkeit geringer, und man kann viel mehr Daten sammeln. Damit können wir künftig den Prozess der klinischen Studien effizienter gestalten. Wichtig ist, dass wir damit auch schwer erreichbare Patient:innengruppen einbeziehen und länderübergreifende Studien durchführen.
Das klingt alles sehr vielversprechend. Aber gerade im Bereich der Datenerfassung im Gesundheitswesen gibt es doch auch grosse Risiken. Was ist, wenn die Daten falsch sind? Dann wäre eine solche Studie ja nutzlos.
Wenn man auf öffentliche Daten zugreift, muss man sicherstellen, dass sie korrekt sind. Dazu müssen wir sie verifizieren. Auch wenn wir an einige der digitalen Tools denken, die wir entwickeln. Ob es sich nun um virtuelles KI-Coaching, Ernährungsberatung oder Ähnliches handelt, wir müssen immer sicherstellen, dass die Informationsquellen, die wir verwenden, integer sind. Und das nehmen wir sehr ernst. Wir haben sehr strengen Prozess in Bezug auf wissenschaftliche, medizinische und rechtliche Aspekte, bevor wir irgendwelche Informationen veröffentlichen.