Interview mit Barbara Frei

Holt man die Mitarbeitenden nicht ab, gelingt die Digitalisierung nicht

Barbara Frei begleitet internationale Industrieunternehmen bei der Automatisierung und Digitalisierung ihrer Prozesse. Industrie 4.0 ist für sie der Schlüssel zu Wachstum und mehr Nachhaltigkeit in der Industrie. Entscheidend für den Erfolg sei jedoch der Mensch.

Barbara Frei-Spreiter, head of the global industrial business at Schneider Electric

Journalistin: Leah Süss | Fotograf: Christian Grund


Frau Frei, wie weit ist die digitale Transformation in Schweizer Unternehmen?
Die Schweiz war schon immer Vorreiterin in Sachen Digitalisierung. Als der Franken 2015 nach der Aufhebung des Euro-Mindestkurses in die Höhe schoss, mussten exportorientierte Industrieunternehmen bereits viele Prozesse automatisieren, um konkurrenzfähig zu bleiben.

Und in welchen Bereichen steckt noch Potenzial?
Viele Schweizer Unternehmen nutzen beispielsweise maschinelles Lernen für die Datenauswertung. Die Unternehmen könnten noch mehr tun, wenn es um künstliche Intelligenz geht. Die KI-Technologie hat in letzter Zeit grosse Sprünge gemacht, insbesondere bei generativen Sprachmodellen. Diese können Unternehmen bei der Entwicklung neuer Anwendungen oder bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsmassnahmen unterstützen.

«Für eine erfolgreiche Digitalisierung müssen alle Mitarbeitenden – von der Unternehmensleitung bis zum Fliessband – einbezogen werden.»

Barbara Frei-Spreiter, head of the global industrial business at Schneider Electric

Zur Person

Barbara Frei (54) leitet bei Schneider Electric seit Mai 2021 das weltweite Industriegeschäft. Die Zürcherin stiess 2016 als Deutschland-Chefin zum Unternehmen und übernahm ein Jahr später den Posten als Chefin der DACH-Region (Deutschland, Österreich und Schweiz). Zuvor hatte Frei verschiedene Führungspositionen beim Schweizer Technologiekonzern ABB inne und verantwortete unter anderem das globale Antriebsgeschäft. Frei-Spreiter verfügt über einen Doktortitel in Maschinenbau der ETH Zürich und einen MBA des IMD Lausanne. 

Das Unternehmen

Schneider Electric ist ein französischer Technologiekonzern, der auf Energiemanagement und Automatisierung spezialisiert ist. Er entwickelt unter anderem Steuerungen und Softwareanwendungen für Wohnhäuser, Geschäftsbauten, Rechenzentren und die Industrie. Der Konzern beschäftigt weltweit rund 150’000 Mitarbeitende und hat Niederlassungen in über hundert Ländern. 2023 machte das 1836 gegründete Unternehmen einen Umsatz von knapp 36 Mrd. EUR.

Schneider Electric betreibt bereits seit 2017 eigene Smart Factories, die im Sinne der Industrie 4.0 digital vernetzt und automatisiert laufen. Mittlerweile wurden weltweit 36 Produktionsanlagen digitalisiert. Welche Lehren ziehen Sie daraus?
Erstens, dass jede digitale Transformation anders verläuft und eigene Herausforderungen mit sich bringt. Dazu gehört auch, dass Unternehmens- und Standortteams oft unterschiedliche Visionen haben. Es ist daher wichtig, von Anfang an gemeinsame Ziele zu definieren. Und zweitens, dass oft nicht die Technologie, sondern der Mensch der entscheidende Faktor für den Erfolg der digitalen Transformation ist: Für eine erfolgreiche Digitalisierung müssen alle Mitarbeitenden – von der Unternehmensleitung bis zum Fliessband – einbezogen werden.

«Vertrauenswürdige Daten sind entscheidend, um die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen voranzutreiben und neue Industriemodelle zu schaffen.»

Bleiben wir beim Menschen. Sie haben kürzlich erwähnt, dass Schneider Electric, wie andere Industrieunternehmen auch, Schwierigkeiten hat, genügend Ingenieur:innen zu rekrutieren. Wie wirkt sich die Automatisierung auf die Berufsrollen im Unternehmen aus?
Das gilt nicht nur für Schneider, sondern für die gesamte Industrie. Je höher der Automatisierungsgrad am Arbeitsplatz ist, desto zugänglicher wird er auch für Arbeitskräfte, die nicht über die traditionellen Qualifikationen verfügen. Die Automatisierung ergänzt die menschlichen Fähigkeiten und übernimmt repetitive oder gefährliche Aufgaben mit Präzision und Geschwindigkeit. Bei der visuellen Inspektion von Bauteilen werden beispielsweise alle 60 Sekunden Komponenten auf Fehler überprüft. Es ist viel effizienter, eine KI-gestützte Kamera für diese Aufgabe einzusetzen und die Mitarbeitenden mit wertvolleren Aufgaben zu betrauen, die menschliches Wissen erfordern.

Nun zum Unternehmen. Je vernetzter die Produktion, desto gravierender sind Ausfälle einzelner Komponenten: Wie ist diesem Risiko zu begegnen?
Stromausfälle oder Systemfehler sind selten. Bei Stromausfällen kann eine Notstromversorgung über Dieselgeneratoren oder Batterien vor Ort erfolgen.
Ein grosses Thema ist die Cybersicherheit. Alle 14 Sekunden findet ein Angriff statt, die Zahl der Sicherheitsverletzungen ist in den letzten fünf Jahren um über 65 Prozent gestiegen. Vor diesem Hintergrund müssen Unternehmen die Schwachstellen ihrer Systeme identifizieren und ihre Cyberrisiken über den gesamten Lebenszyklus aller Anlagen hinweg richtig einschätzen. Und auch hier ist der Mensch zentral: Unternehmen müssen ihre Mitarbeitenden schulen, damit sie die Risiken verstehen und ihr Verhalten entsprechend anpassen.  

Ein weiterer Knackpunkt für eine vernetzte Industrie ist der Datenaustausch zwischen Unternehmen. Viele Unternehmen haben ihre Daten bisher als Betriebsgeheimnis gehütet. Ändert sich das langsam?
Das ist in der Tat noch ein kritischer Punkt. Einige Kund:innen sind noch nicht bereit, ihre Datenbanken mit kontextualisierten Angaben zu ihren Produktionsabläufen offenzulegen. Vertrauenswürdige Daten sind aber entscheidend, um die Zusammenarbeit voranzutreiben und neue Industriemodelle zu schaffen. Hier haben wir in Europa eine riesige Chance: Wir haben gute Gesetze, etwa im Bereich des Datenschutzes, und könnten durch einen breiteren Datenaustausch die Produktion besser skalieren. Andere Länder sind uns da schon voraus.

«Wir haben in Europa eine riesige Chance: Wir haben gute Gesetze, etwa im Bereich des Datenschutzes, und könnten durch einen breiteren Datenaustausch die Produktion besser skalieren.»

Auch Energieeffizienz wird als Chance der Digitalisierung gesehen. In welchen Bereichen der Industrie kann sie noch gesteigert werden?
Die Schwerindustrie, also etwa das verarbeitende Gewerbe und die Chemie, hat aufgrund von Kostendruck und Regulierung schon viel in Sachen Energieeffizienz geleistet. Am weitesten ist die Öl- und Gasindustrie, die am energieintensivsten ist. Wirklich aufholen muss die sogenannte Leichtindustrie, also beispielsweise Firmen, die Teile zusammensetzen. Bei allen Prozessen, die mit Wasser, Licht oder Wärme zu tun haben, kann Energie gespart werden, zum Beispiel durch den Einbau von Wärmepumpen statt Ölheizungen. Der Anreiz ist klar: Energieeffizienz ist der grösste Hebel für mehr Nachhaltigkeit und tiefere Kosten. Die meisten Investitionen zahlen sich in drei bis vier Jahren aus. 

«Die Digitalisierung muss beim Menschen ansetzen. Man kann dafür nicht einfach externe Berater:innen anstellen.»

Mit Blick in die Zukunft: Welche Digitalisierungstrends erwarten Sie?
Die Industrie der Zukunft wird zum einen zunehmend fortschrittlichere digitale Technologien wie KI, Drohnen und virtuelle Realität einsetzen, um Produktivität, Effizienz und Nachhaltigkeit zu optimieren. Dies wird auch nötig sein, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Zum anderen wird die Digitalisierung in der Geschäftsplanung weiterhin eine hohe Priorität haben. Sie muss aber beim Menschen ansetzen. Man kann dafür nicht einfach externe Berater:innen anstellen, vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen können die inneren Widerstände gross sein. Holt man die Mitarbeitenden nicht ab, gelingt die Digitalisierung nicht. Die Geschäftsleitung muss also Probleme anpacken und Lücken schliessen. Es ist eine spannende Zeit!