Interview mit Bertrand Piccard

Wie wir den Wunsch nach Veränderung wecken

Ob persönliche Träume oder die Vision einer nachhaltigeren Wirtschaft, die auf Qualität setzt statt auf Quantität: Der Luftfahrtpionier und Psychiater Bertrand Piccard ist davon überzeugt, dass wir beides verwirklichen können. Im Gespräch erklärt er, warum wir dazu zwingend den Status quo verlassen und das Unbekannte wagen müssen.

Bertrand Piccard, president of Solar Impulse Foundation

Journalistin: Larissa Tschudi | Fotograf: Markus Bertschi

Herr Piccard, wir befinden uns hier in Lausanne am Sitz Ihrer Stiftung und sind umgeben von zahlreichen Trophäen und Gegenständen, die an die Luftfahrt erinnern. Das Fliegen war für die Menschheit sehr lange ein unerreichbarer Traum, bis er endlich wahr wurde. Wie wichtig ist es für uns Menschen, Träume zu haben?
Bertrand Piccard: Träume zu haben, ist für den Menschen essenziell. Aber genauso wichtig ist es, die Bedingungen zu erfüllen, damit der Traum wahr werden kann. Denn es ist sehr frustrierend, zu träumen und den Traum dann nicht zu erfüllen. Und das verstehen die Leute manchmal nicht: Sie müssen härter für ihren Traum arbeiten. Sie müssen die Voraussetzungen für die Verwirklichung des Traums schaffen. Manchmal ist es das Fundraising, manchmal sind es Fähigkeiten, die man entwickeln muss. Wichtig ist auch, dass es der eigene Traum ist und nicht der Traum eines anderen.

Als Luftfahrtpionier haben Sie vorgelebt, wie man Träume realisiert. Sie ermuntern dadurch auch andere Menschen, Ihre Träume umzusetzen.
Es ist eine Frage der Vision des Lebens: Wofür ist das Leben da? Wollen Sie etwas dazulernen, Neues erforschen und verstehen lernen, oder wollen Sie am Status quo festhalten und sich durch keinen Traum von diesem Status quo abbringen lassen? Ich glaube, es gibt Menschen, die nicht träumen. Vielleicht ist das Nichtträumen ein Weg, um mit einer schwierigen Situation fertig zu werden. Manchmal müssen wir diesen Menschen helfen, den Funken, der in ihnen schlummert, wieder aufzuwecken, damit sie sich ihre Wünsche erfüllen.

«Das verstehen die Leute manchmal nicht: Sie müssen härter für ihren Traum arbeiten.»

Sprechen wir über Ihre Vision einer sauberen und nachhaltigeren Wirtschaft der Zukunft. Sie setzen sich seit vielen Jahren mit innovativen Lösungsansätzen auseinander. Welche dieser Ideen sind die vielversprechendsten?
Alles, was das Leben, die Industrie, die Mobilität, die Landwirtschaft und die Abfallwirtschaft effizienter macht. Effizienz wird dabei häufig nicht richtig verstanden. Es geht darum, dass mit weniger Ressourcenverbrauch ein besseres Ergebnis erzielt wird. Man kommt also mit weniger besser zurecht. Man entkoppelt die wirtschaftliche Entwicklung vom Konsum.

Sie sprechen das Konzept des sauberen oder «qualitativen» Wachstums an, für das Sie plädieren. Wie funktioniert das?
Sie schaffen Arbeitsplätze und fördern die Wirtschaft, indem Sie umweltschädliche Elemente durch umweltfreundliche Massnahmen ersetzen. Anstatt Quantität zu verkaufen, verkaufen Sie Qualität und Effizienz. Manchmal verkaufen Sie weniger Produkte und erzielen einen geringeren Umsatz, aber wenn diese Produkte effizienter, wertvoller und langlebiger sind, können Sie sie zu einem höheren Preis verkaufen, und Ihr Gewinn ist höher. Für den Kunden wird der Preis günstiger, da er diese Produkte nicht so häufig kaufen muss. Qualität ist ein Geschäft. Und sie ist viel profitabler, was den Gewinn angeht. Bisher mussten wir uns zwischen einer aufopfernden und teuren Ökologie einerseits und einer schmutzigen, umweltschädigenden, aber profitablen Industrie andererseits entscheiden. Diese Zeit ist vorbei. Wir können eine rentable Ökologie und eine saubere Industrie haben, aber diese Lösungen müssen überall und konsequent umgesetzt werden.

«Und was macht man dann in einer Therapie? Genau dasselbe, was wir für den Umweltschutz tun müssen: Man muss den Wunsch nach Veränderung wecken.»

Die Menschen müssen dafür ihre Gewohnheiten ändern. Was haben Sie durch Ihre Tätigkeit als Psychiater diesbezüglich über die menschliche Natur gelernt?
Als Psychiater und Psychotherapeut ist mir der Widerstand der Menschen gegen Veränderungen aufgefallen. Seit 20 Jahren behandle ich nun Menschen. Sie kommen zu mir und sagen: „In meinem Leben gibt es ein Problem.“ Und ich antworte: „Gut. Was müssen Sie ändern?“ Oft wollen die Menschen dann, dass sich die anderen ändern, und nicht sie selbst. Das liegt in der Natur des Menschen. Und was macht man dann in einer Therapie? Genau dasselbe, was wir für den Umweltschutz tun müssen: Man muss den Wunsch nach Veränderung wecken.

Und wie weckt man diesen Wunsch?
Indem man den Menschen die Vorteile einer Veränderung aufzeigt. Wenn die grüne Wende Opfer erfordert und teuer ist, wird niemand sie mittragen. Man muss die Leute also davon überzeugen, dass eine neue Lösung nicht nur aufregend ist, sondern auch besser für ihre Lebensqualität und für die Wirtschaft, dass sie rentabel ist und neue Marktchancen eröffnet. Sobald wir damit beginnen, auf Qualität zu setzen, werden wir mit vielen Dingen automatisch aufhören: mit Fast Fashion, Fast Food und allen anderen schmutzigen Dingen, die dem Planeten und der Gesundheit schaden und die soziale Ungleichheit verstärken.

«Wenn die grüne Wende Opfer erfordert und teuer ist, wird niemand sie mittragen.»

Nebst den Personen, die mit gutem Beispiel vorangehen und neue Lösungen aufzeigen, braucht es auch eine kritische Masse, die bereit ist, die Veränderungen mitzutragen.

Funktionieren wird es nur, wenn man genügend andere Menschen dazu motivieren kann und etwas zum neuen Mainstream wird. Es gibt führende Politiker:innen, die versuchen, eine bessere Zukunft zu gestalten, und es gibt diejenigen, die sich dagegen wehren. Das schafft eine Menge Spannungen. Wenn Sie eine Führungspersönlichkeit sein wollen, reicht es nicht, zu sagen: «Was ich denke, ist richtig, und alle anderen liegen falsch». Sie werden erst dann zur Führungspersönlichkeit, wenn Sie es schaffen, aufzuzeigen, wo jede und jeder etwas richtig oder besser machen kann. Man muss sich mit den anderen zusammentun.

 

Bei aller Sympathie für sauberes Wachstum: Müssen wir parallel dazu nicht auch ein bisschen bescheidener werden?

Ich stimme Ihnen zu: Wir müssen effizienter werden, in dem Sinne, dass wir weniger verschwenden und mit weniger Konsum besser auskommen. Wir müssen bereits in unseren Wünschen vernünftiger werden und davon wegkommen, immer mehr besitzen zu wollen. Mehr nutzlose Dinge zu besitzen, ist kein Fortschritt.

 

Was verstehen Sie unter Fortschritt?
Fortschritt ist, herauszufinden, wie sich unsere Lebensqualität verbessern lässt. Nehmen wir als Beispiel die selbstfahrenden Autos: Wenn Sie sich wirklich dafür entscheiden, müssen Sie so viele Daten verarbeiten, dass Sie die Anzahl der Datenzentren und die Energie für den Betrieb dieser Zentren um ein Hundertfaches multiplizieren müssen. Wofür? Um ein Auto zu haben, das von selbst fährt. Aber wem nützt das? Wir müssen bei dem, was wir anstreben, immer auch entscheiden, ob es nützlich ist oder nicht.

«Viele Leute wissen nicht, dass es vor 100 Jahren in Paris noch kein fliessendes Wasser und keine Toiletten in den Häusern gab.»

In seinem Streben nach technologischem Fortschritt kennt der Mensch praktisch keine Grenzen. Macht Ihnen dieser Grössenwahn – die Hybris – keine Angst?
Ich kann verstehen, dass Menschen Angst vor der Technologie haben, wenn sie darunter etwas Verrücktes verstehen oder etwas, das nicht mehr kontrolliert werden kann. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie unsere Lebensqualität massiv verbessern kann. Viele Leute wissen nicht, dass es vor 100 Jahren in Paris noch kein fliessendes Wasser und keine Toiletten in den Häusern gab. Die Leute warfen Fäkalien aus den Fenstern, es gab Epidemien und Krankheiten – es war schrecklich. Heute ist die Lebensqualität für einen grossen Teil des Planeten viel besser. Zentral ist, dass die Technologie dem Menschen dient und nicht umgekehrt.

Sie sind schon mehr als einmal um unseren Planeten geflogen. Wie fühlt sich das an, die Erde von oben zu sehen?
Wenn man mit dem Wind fliegt, wie mit dem Breitling Orbiter-Ballon, oder wenn man mit der Sonne fliegt, wie mit Solar Impulse, nutzt man die Kräfte der Natur. Und man spürt, dass man ein Teil ist von ihr. Ich freue mich deshalb darauf, die Erde als Nächstes mit einem Wasserstoff-Flugzeug zu umrunden – ein Wasserstoff, der völlig sauber ist und aus erneuerbaren Energien hergestellt wird.

Bertrand Piccard, president of Solar Impulse Foundation

Zur Person

Bertrand Piccard (1958 in Lausanne geboren) ist Entdecker, Psychiater und Botschafter für saubere Technologien. 1999 gelang ihm zusammen mit Brian Jones als erster Mensch, die Erde in einem Ballon zu umrunden. 2015/2016 umrundete er die Welt erneut – diesmal mit einem Solarflugzeug. Mit seinem nächsten Projekt «Climate Impulse» plant er eine Umrundung in einem mit Wasserstoff betriebenen Flugzeug. Er ist Präsident der Stiftung Solar Impulse, die Lösungen identifiziert, um die Umwelt zu schützen und ein sauberes Wachstum zu fördern. Bertrand Piccard entstammt einer berühmten Entdeckerfamilie: Sein Grossvater war der Erfinder Auguste Piccard, sein Vater der Tiefseeforscher Jacques Piccard.