Interview mit Juan Beer

Lebenslanges Lernen: Die Antwort auf Technologie im Versicherungswesen

Neue technologische Anwendungen und zunehmende Datenmengen bieten Unternehmen Chancen. Aber sie können auch ganz schön gefährlich sein. Für Versicherer, die Schäden abdecken, gilt dies noch mehr als für andere Branchen. Juan Beer, Chef der Zurich Schweiz, erklärt im Interview, wie der technologische Wandel seine Arbeit beeinflusst und was dieser für ihn als CEO und seine Mitarbeitenden bedeutet.

Juan Beer, CEO of Zurich Switzerland

Journalist:in: Redaktion ceo | Fotograf: Zurich Versicherung


Herr Beer, Sie haben Ihr gesamtes Berufsleben bei der Zurich verbracht. Nehmen Sie uns doch einmal mit in die Zeit, als Sie Ihre Lehre angefangen haben. Wie war die Zurich damals?
Ich stieg 1987 bei Zürich ein – ja, damals hatten wir noch das «ü» im Namen. Zu jener Zeit war die Bürowelt vor allem von Papier und Schreibmaschine geprägt. Policen wurden manuell beschriftet und physisch abgelegt. Entsprechend gross war das Archiv. Das Hauptbuch in der Buchhaltung war tatsächlich ein Buch. Und wenn wir mit dem Ausland kommunizierten, haben wir das per Fax gemacht. Als ich 1992 meinen ersten Tisch-PC erhielt, fühlte sich das fast an wie eine Beförderung.

Heute sind Sie an der Spitze der Zurich Schweiz und haben in dieser Zeit den gesamten digitalen Wandel mitgemacht. Was hat Ihrer Meinung nach in der Versicherungsbranche den grössten Einfluss gehabt?
Abgesehen vom Internet ist es schwierig, eine einzige Innovation zu nennen. Aber als Industrie stehen wir auch nicht für den radikalen Wandel, sondern für die nachhaltige Entwicklung. Unser Geschäft ist langfristig. Cloud-Technologie dürfte weit oben im Ranking stehen. In der Kombination mit der Generativen KI stehen wir vor neuen Möglichkeiten zur Steigerung von Kundennutzen, Effizienz, Effektivität und Agilität.

Was heisst das für Zurich?
Unser Geschäft wird in den nächsten Jahren verschiedene Transformationsphasen durchlaufen. Ich spreche nicht nur von Prozessoptimierungen, sondern von fundamentalen Veränderungen. Unsere Kund:innen haben neue Bedürfnisse und Erwartungen. Gleichzeitig sehen wir uns mit strukturellen Risikoveränderungen konfrontiert. Die Verfügbarkeit und die Qualität von Daten sind daher wichtiger denn je. In diese Fähigkeiten investieren wir stark und setzen dabei so weit wie möglich auf eine funktionsübergreifende «One Data Source»-Strategie. Bei uns geht das ausserdem mit einem starken Governance-Framework und einem klaren Versprechen zur Aufbewahrung und zum sicheren Umgang mit Daten einher.

«Als ich 1992 meinen ersten Tisch-PC erhielt, fühlte sich das fast an wie eine Beförderung»

Juan Beer, CEO of Zurich Switzerland

Zur Person

Juan Beer (Jhg. 1970) ist seit 2018 Geschäftsführer der Zurich Schweiz. Er stiess 1987 als Lernender zu Zurich und besetzte seither diverse lokale und globale Positionen in der Zurich Gruppe. Nebst seiner Aufgabe als Chef von Zurich Schweiz hält er diverse Mandate, unter anderem als Vizepräsident des Schweizerischen Versicherungsverbands, Vorstandsmitglied von economiesuisse, Verwaltungsratspräsident von Zurich Reinsurance Ltd. oder Verwaltungsrat beim Opernhaus Zürich. Beer ist verheiratet und Vater einer erwachsenen Tochter.

Das Unternehmen

Die Zurich wurde 1872 unter dem Namen «Versicherungs-Verein» in der Schweiz gegründet. Mittlerweile ist sie eine weltweit führende Mehrspartenversicherung mit Kundinnen und Kunden in über 200 Ländern und Gebieten. Die Zurich Insurance Group zählt rund 60‘000 Mitarbeitende, knapp 7’200 davon sind in der Schweiz beschäftigt. Als Ländergesellschaft betreut Zurich Schweiz über 1,4 Millionen Privat- und Unternehmenskunden.

Welche strukturellen Risikoveränderungen meinen Sie damit?
Aspekte der Globalisierung werden aufgrund des geopolitischen Geschehens neu geschrieben und wir erleben einen tatsächlichen Umbau der internationalen Lieferkettenarchitektur. Klimawandel, Urbanisierung, Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum und Inflation haben in den letzten Jahren zu einem dramatischen Anstieg von gesamtwirtschaftlichen und damit auch von versicherten Schäden aus Naturkatastrophen geführt. Wir erleben ein kaum kontrollierbares Haftungsumfeld für Unternehmen in den USA – «Social Inflation» der neue Begriff. Anstehende Schritte beim autonomen Fahren werden eine neue haftpflichtrechtliche Dimension auslösen. Mit der Generativen KI öffnet sich auch ein neues Kapitel bei der Cyberkriminalität. Vorsorgesysteme stehen vor der Frage der langfristigen Finanzierbarkeit. Die Grenzen der Versicherbarkeit werden getestet und teilweise neu definiert und Menschen und Unternehmen brauchen eine neue Art der Unterstützung im Umgang mit ihren Lebens- und Risikosituationen. Darauf richten wir uns aus – und Daten spielen dabei eine zentrale Rolle.

Wie sieht es mit der Nutzung von KI aus? Erlauben Sie den Einsatz solcher Technologien?
Zurich Schweiz gehört vermutlich zu den Spitzenreitern im Einsatz Machine Learning und Künstlicher Intelligenz. Schon sehr früh haben wir ein Team aufgebaut, das zusammen mit den verschiedenen Abteilungen Anwendungsbereiche für KI identifiziert. Zum Beispiel nutzen wir die KI bei der Analyse komplexer Ansprüche aus Körperschäden, für die Kontrolle von Reparaturrechnungen oder für die Schaden-Betrugsbekämpfung im Schaden. Weitere Anwendungsbereiche sind die maschinelle Unterstützung im Kundendienst oder Vertragsvergleiche im internationalen Geschäft. Auf Gruppenebene hat Zurich eine interne ChatGPT-Lösung ausgerollt. Zurich Schweiz ist derzeit der aktivste Anwender für Übersetzungen, Textvorlagen oder zur Erstellung von Entscheidungsvorlagen. Es macht mich stolz zu sehen, wie mein Team die zur Verfügung stehenden Fähigkeiten einsetzt und damit effizienter wird. Das nimmt uns die Angst und erhöht unser Risikobewusstsein im Umgang mit dieser neuen Technologie.

Welche ethischen Überlegungen stellen Sie beim Einsatz von KI an?
Bei der Definition unseres Group AI Assurance Framework war dies das allererste Kapitel. Zum Beispiel müssen alle KI-Entscheide dokumentierbar, erklärbar und durch menschliche Mitarbeitende überprüfbar sein. Der letzte Entscheid liegt immer bei einem Menschen. 

«Wir setzen stark darauf, das Bewusstsein der Mitarbeitenden im Bereich Cybersecurity zu schärfen, zum Beispiel mit jährlichen Trainings.»

Mit zunehmendem Einsatz von Technologie steigt auch das Risiko, Opfer von Cyberkriminellen zu werden. Spüren Sie das?
Ohne Cybersecurity geht heute nichts mehr. Der Schutz unserer Systeme geniesst oberste Priorität im ganzen Unternehmen. Spezielle Teams widmen sich dem Thema und arbeiten mit den Ländereinheiten zusammen. Zudem setzen wir stark darauf, das Bewusstsein der Mitarbeitenden zu schärfen, zum Beispiel indem wir jährliche Trainings organisieren.

Aber nicht nur Sie, sondern auch Ihre Kundschaft muss sich vor Cyberrisiken schützen. Welche Rolle spielen Cyberversicherungen für die Zurich?
Cyber ist ein komplexes Thema. Die Versicherung kann erst ins Spiel kommen, wenn das Unternehmen klare Standards aufgestellt hat. Zuerst kommt der Schutz der Infrastruktur und das Training der Mitarbeitenden: Wie stellen wir sicher, dass Mitarbeitende kriminelle E-Mails erkennen? Wie oft gibt es Updates, Backups? Werden sie auf einem Server oder in der Cloud aufbewahrt? Wie sind sie gegen physische Ereignisse wie Feuer geschützt?
Passiert trotzdem etwas, braucht es ebenfalls einen klaren Plan: Wie aktivieren wir Backups? Wie reagieren wir auf Erpressung? Wie informieren wir Mitarbeitende, Lieferanten, Aktionäre oder die Presse? Die Versicherung kommt ganz am Schluss. Und auch hier ist es wieder komplex: Direktschaden, Betriebsunterbruch, mögliche Konventionalstrafen etc. Je nach Vertragskonditionen übernimmt die Versicherung definierte Teile. Andere Kosten wiederum liegen beim Unternehmer. Darum ist es zentral, in Sicherheit und Planung zu investieren.

«Die Generationen X und Y haben wesentlich mehr Zeit damit verbracht, Informationen zu suchen und zusammenzutragen, als diese für einen Entscheid zu nutzen. Bei der Generation Z ist es genau umgekehrt. Sie erwartet, dass Daten und Informationen verfügbar sind.»

Und Sie persönlich, wie schützen Sie sich vor Cyberangriffen?
Die obligatorischen Cyber-Trainings bei Zurich haben mein Bewusstsein und meine private Cyber-Resilienz auf jeden Fall schon stark erhöht. Ich achte auf den Einsatz von VPN oder auf die Wahl von Passwörtern. Auch bei Backups bin ich sehr konsequent, inklusive Cloud-Optionen.

Wir haben viel über Daten und neue Technologien gesprochen. Eine jüngst veröffentlichte Studie hat gezeigt, dass Fortschritte in diesen Bereichen die Ansprüche an Mitarbeitende deutlich verändern. Wie gehen Sie damit um?
Als Arbeitgeber ist es wichtig, dass wir lebenslanges Lernen fördern und nicht nur in die Technologie, sondern auch in die Ausbildung unserer Mitarbeitenden investieren. Meiner Meinung nach steigen aber nicht nur die Ansprüche der Unternehmen an die Mitarbeitenden, sondern auch diejenigen der Mitarbeitenden an die Unternehmen. Die Generationen X und Y haben wesentlich mehr Zeit damit verbracht, Informationen zu suchen und zusammenzutragen, als diese für einen Entscheid zu nutzen. Bei der Generation Z ist es genau umgekehrt. Sie erwartet, dass Daten und Informationen verfügbar sind. 

«Technologie bedeutet immer Veränderung. Das war bei der Dampfmaschine so, bei der Elektrizität, dem Internet und nun vermutlich auch bei der KI. Doch diese Erfindungen haben auch immer neue Jobs kreiert. Warum soll es diesmal anders sein?»

Das mag sein, aber die älteren Generationen fürchten sich doch davor, ersetzt zu werden. Ist diese Angst nicht berechtigt?
Natürlich ist sehr viel darüber zu lesen, welche Jobs in den nächsten Jahren verschwinden werden. Das schafft Verunsicherung und Angst. Aber Technologie bedeutet immer Veränderung. Das war bei allen grossen Erfindungen der Fall: bei der Dampfmaschine, der Elektrizität, dem Internet und nun vermutlich auch bei der KI. Gleichzeitig haben diese Erfindungen auch immer neue Jobs kreiert und den Wohlstand gesteigert. Warum soll es diesmal anders sein? Zudem ist der Arbeitskräftemarkt global angespannt und per 2029 verlieren wir eine ganze Generation, die Babyboomers. Mit Technologie können wir einen Teil dieser natürlichen Abgänge ersetzen.