Interview mit Simon Michel
Simon Michel ist CEO von Ypsomed. Der Med-Tech-Unternehmer arbeitet an seinen eigenen Avatars und will seine Zeit noch effizienter nutzen. Mehr Zeit haben dürften in Zukunft aber alle: Denn künstliche Intelligenz führt laut Michel zu einer Explosion an innovativen Medikamenten, so dass wir Menschen deutlich länger leben.
Journalist: Thomas Peterhans | Fotograf: Markus Bertschi
Herr Michel, wo profitieren wir Menschen am meisten von künstlicher Intelligenz?
Ganz bestimmt bei der Gesundheit. In diesem Bereich bringt uns künstliche Intelligenz mit Abstand den grössten Nutzen. KI wird Gesundheit neu definieren. Wir werden eine Explosion an Medikamenten erleben, die uns ein längeres Leben ermöglichen.
Bedeutet das, dass wir in Zukunft dank Medikamenten 120 Jahre alt werden können?
Das ist gut möglich, sollte aus meiner Sicht aber nicht das Ziel der Gesundheitswirtschaft sein. Vielmehr muss sie Lösungen entwickeln, um die häufigsten Todesursachen zu vermeiden und dafür sorgen, dass wir im Alter möglichst lange schmerzfrei und bei klarem Verstand bleiben.
«Künstliche Intelligenz wird Gesundheit komplett neu definieren.»
Was braucht es dafür?
Die Gesundheitsbranche muss Krankheiten besiegen. Denn heute lassen sich über 90 Prozent aller Todesfälle auf Krankheit zurückführen: 30 Prozent auf Krebs, 30 Prozent auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen und 30 Prozent auf andere Krankheiten. Viele Krebsarten und einen Grossteil anderer Krankheiten werden wir in den 2040er- und 2050er-Jahren dank Technologie heilen können.
Welchen Beitrag leistet Technologie konkret?
Technologie wird das Tempo bei der Entwicklung neuer Medikamente unglaublich beschleunigen. Sobald der Mensch komplett virtualisiert ist, werden Studien nicht mehr mit echten Menschen durchgeführt, sondern anhand von Modellen. Das wird eine der grössten Errungenschaften in der medizinischen Entwicklung sein, dauert aber bestimmt noch gut zehn Jahre.
Wo stehen wir heute?
In der Krebsforschung hat die technologiebasierte Entwicklung von Medikamenten bereits massiv Fahrt aufgenommen. Allein bei der Zusammenarbeit von Nvidia und Roche stehen hunderte neuer potenzieller Medikamente in der Entwicklung. Oder nehmen wir Fettleibigkeit. Sie ist mit über 200 Krankheiten verbunden, wie zum Beispiel Diabetes Typ 2, Knie-, Hüft- und Rückenbeschwerden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder das Schlafapnoe-Syndrom. Zwar ist Fettleibigkeit nicht nur eine Krankheit, sondern auch die Folge eines Verhaltens und häufig ein Mix. Aber wenn die Menschheit dank Abnehm-Präparaten schlanker wird, bekommen wir viele dieser Folgekrankheiten in den Griff.
«In den 2040er- und 2050er-Jahren werden wir Krebs besiegen.»
Simon Michel (47) ist seit 2014 Geschäftsführer und Verwaltungsrat der Ypsomed Gruppe. Mit einem Fokus auf Injektionssystemen und Insulinpumpen treibt er die Digitalisierung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz voran. Michel studierte Wirtschaft in St. Gallen und ist seit Dezember 2023 FDP-Nationalrat. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Ypsomed ist international führend in der Entwicklung und Herstellung von Injektions- und Infusionssystemen für die Selbstverabreichung von flüssigen Medikamenten. Weltweit beschäftigt Ypsomed rund 2'600 Mitarbeitende.
Der Boom mit Appetitzüglern beflügelt auch Ypsomed. Ihr Unternehmen liefert die Injektionssysteme, die sogenannten Pens und Autoinjektoren, mit denen die Medikamente gespritzt werden.
Das ist richtig. Und wir sehen grosses Potenzial. Heute erzielen wir mit unseren Injektionssystemen rund 400 Millionen Franken Umsatz. Dieser Umsatz wird sich bis 2030 verdreifachen. Deshalb investieren wir in den nächsten fünf Jahren rund 1,5 Milliarden Franken in neue Produktionsinfrastruktur, und auch hierbei hat Technologie ein enorm hoher Stellenwert.
Inwiefern?
Ein Pen besteht aus 12 bis 13 Teilen. Die Produktion umfasst zwei Hauptprozesse: Kunststoff-Spritzguss und Montage. Dazu werden die zuvor gespritzten Teile in die 30 Meter lange Montageanlage eingeführt und hinaus kommen komplett fertige Pens auf Paletten. Unsere Mitarbeitenden haben schon heute keinen Berührungskontakt mit den Teilen mehr, sind aber noch in der Intralogistik und Logistik involviert. Meine Vision ist jedoch eine «Dark Factory» ohne Mitarbeitende im Shopfloor – das Licht wird lediglich im Störungsfall eingeschaltet, um Fehler zu beheben.
Ist die Herstellung der Pens ohne menschliche Arbeit möglich?
Nein, das nicht. Aber die Arbeit der Menschen beschränkt sich auf wertschöpfende Tätigkeiten wie die Planung, Bedienung oder Wartung der Anlagen. Dieser Fokus ist zentral. Bedenken, dass dabei nicht alle mitkommen, teile ich nicht. Meine Erfahrung zeigt: die allermeisten Menschen sind in der Lage, anspruchsvollere Jobs zu erledigen, wenn sie entsprechend geschult werden. In Burgdorf und Solothurn beschäftigen wir über 400 ungelernte Mitarbeitende, die wir «on the job» ausgebildet haben.
«Meine Vision ist eine Dark Factory ohne Mitarbeitende auf dem Shopfloor.»
Welche Bedeutung hat Technologie für den Produktionsstandort Schweiz?
Technologie ist die einzige Möglichkeit, um als Standort langfristig zu überleben. Doch die Schweiz muss nicht zwingend alleiniger Produktionsstandort sein. Wir müssen entwickeln, denken, forschen – personalintensive Aktivitäten und Wirtschaftszweige brauchen wir hierzulande nicht unbedingt.
Auch im zweiten Geschäftsfeld von Ypsomed, den Insulinpumpen, spielt Technologie eine zentrale Rolle. Welche?
Bei den Insulinpumpen arbeiten wir mit dem Algorithmus CamAPS aus Cambridge, dem besten in unserer Branche. CamAPS ist ein lernender Algorithmus, der in Echtzeit mit Daten aus der Vergangenheit Modelle errechnet, um die Glukose-Entwicklung vorherzusagen. So lässt sich die Insulinpumpe wesentlich besser steuern. Das ist für Menschen mit Typ 1 Diabetes ein echter Game Changer.
Gibt es bei Ypsomed weitere Bereiche, in denen Technologie ein Game Changer ist?
Da gibt es viele, zum Beispiel im Patentwesen – ein perfektes Anwendungsfeld für KI. Denn heute geht es nicht mehr darum, eigene Patente zu verteidigen, sondern die Entwicklung um andere Patente herum zu gestalten. Bisher mussten unsere Expert:innen hunderte Patentschriften kennen, um den Entwickler:innen zu erklären, wie sie vorgehen könnten. Diese Zeiten sind vorbei. Heute erzielen wir Resultate in wenigen Stunden, die früher einen Monat Zeit beansprucht haben. Und das wesentlich präziser.
«Im Patentwesen ist Künstliche Intelligenz ein echter Game.»
KI sorgt für schnellere und präzisere Resultate. Bestehen dabei auch Risiken?
Künstliche Intelligenz definiert jede erdenkliche Variante für ein spezifisches Element und deckt es mit sehr vielen Patenten ab. Dadurch werden bestimmte Entwicklungen allenfalls patentseitig verschlossen. Das muss man sehr sorgfältig prüfen, um Innovation nicht zu bremsen.
Zum Schluss: Welche KI-Projekte beschäftigen Sie momentan?
Da gibt es viele. Ich beschränke mich hier mal auf zwei: In unseren Call-Centern werden bald Bots für Anfragen zuständig sein. Diese Bots sprechen im Dialekt des Anrufenden und liefern bessere und schnellere Informationen. Ich bin überzeugt davon, dass es nicht lange dauern wird, bis Interaktionen mit der Maschine das Normalste der Welt sind.
Und das zweite Projekt?
Wir arbeiten daran, mich als CEO komplett zu virtualisieren. Denn heute nimmt etwa die Produktion von Videos viel Zeit in Anspruch. Künftig muss ich nur noch den Text eingeben und mein Avatar spricht – perfekt gekleidet je nach Anlass im Business Look oder im Casual Outfit. Je nach Adressat:innenkreis und Einsatzgebiet bin ich natürlich weiterhin selbst aktiv. Wichtig ist: Dank Technologie können wir alle viel mehr gleichzeitig machen und unsere Zeit effizienter einsetzen.