Interview mit Tina Müller
Tina Müller führt Weleda in die digitale Zukunft: Das über 100-jährige Naturkosmetik-Unternehmen setzt zunehmend auf KI. Und auf TikTok ist es in Sachen Marketing ganz vorne mit dabei.
Journalistin: Isabel Hempen | Fotograf: Markus Bertschi
Frau Müller, die Digitalisierung gehört zu den strategischen Schwerpunkten von Weleda. Was bedeutet das konkret?
Bei der Digitalisierung setzen wir vor allem auf drei Bereiche. Erstens auf Digital Commerce mit unserem Webshop und den Vertrieb auf Plattformen wie Amazon oder Douglas. Zweitens auf Digital Marketing - wir wollen noch deutlich präsenter auf den Social-Media-Kanälen werden. Und drittens auf Datenmanagement inklusive ChatGPT. Wir haben eine ChatGPT-Version für Weleda entwickelt, die wir mit unserem gesamten Wissen gefüttert und für das ganze Unternehmen nutzbar gemacht haben. Damit konnten wir beispielsweise unsere weltweite Mitarbeiterumfrage auswerten.
Sie wollen auf Social Media präsenter sein – welchen Stellenwert haben die Plattformen für Weleda?
Neben Instagram ist vor allem TikTok wichtig für uns, sowohl was Inspiration und Information als auch Commerce angeht. TikTok wird voraussichtlich der grösste Beauty-Channel werden, nicht zuletzt, da die Plattform jetzt auch eine Shop-Funktion hat. In England und in den USA haben wir hier bereits erste Umsätze erzielt, nächstes Jahr ist die Funktion dann auch für Kontinentaleuropa verfügbar.
Social Media schaffen – teils fragwürdige – Trends, gerade auch in der Beauty-Branche. Wie geht Weleda damit um?
Als Marke tragen wir Verantwortung, und wir haben eine klare Haltung, wofür wir stehen und wofür nicht. Als wir beispielsweise kürzlich unser Rosmarin-Shampoo auf TikTok promoteten, war es schnell ausverkauft. Wir hatten keinen Rosmarin, der nur einmal im Jahr geerntet wird, mehr auf Lager. Da hätte ich sagen können: Wir kaufen noch irgendwo Rosmarin, egal, unter welchen Bedingungen er wächst, und wir produzieren unter Hochdruck. Das wäre gut gewesen fürs Geschäft, aber gegen unsere Werte. Weleda wirtschaftet mit Verantwortung. Wir haben als Marke einen Einfluss auf die Gesellschaft.
«Als Marke tragen wir Verantwortung. Wir haben eine klare Haltung, wofür wir stehen und wofür nicht. »
Tina Müller (56) ist seit Oktober 2023 CEO des Naturkosmetik-Unternehmens Weleda. Davor war sie von 2017 bis 2022 CEO der Beauty-Handelskette Douglas, wo sie die Digitalisierung des Geschäfts und insbesondere den Ausbau des E-Commerce vorantrieb. Sie studierte BWL und VWL an den Universitäten Trier und Lyon und zählt zu den einflussreichsten Managerinnen Deutschlands.
Weleda stellt seit 1921 Naturkosmetik und anthroposophische Arzneimittel her. Das international tätige Unternehmen mit Hauptsitz in Arlesheim baut für die Herstellung seiner Produkte auf mehreren Kontinenten Heilpflanzen nach biodynamischer Anbauweise an. Der grösste Teil des Sortiments wird in der Schweiz, in Deutschland und in Frankreich produziert. Die internationale Weleda-Gruppe umfasst 29 Gesellschaften in 22 Ländern und beschäftigt rund 2300 Menschen.
Die Frage der Verantwortung stellt sich wohl auch beim Thema künstliche Intelligenz.
Genau. Wenn künstliche Intelligenz dazu verwendet wird, virtuelle Welten zu erzeugen, die nichts mehr mit der Realität und der Natur zu tun haben, stossen wir bei Weleda klar an eine Grenze. Wir werden keine künstlich generierten Gesichter und Models zeigen. Als Naturkosmetik-Unternehmen muss die Natürlichkeit unserer Marke auch im Marketing sichtbar sein.
Welche Bedeutung hat KI darüber hinaus für Weleda?
KI stellt für Weleda eine grosse Chance dar, effizienter und agiler zu werden. Sie spielt für uns auf verschiedenen Ebenen eine Rolle, etwa in der Kommunikation mit unseren Kund:innen, also im Webshop und bei der individuellen Ansprache. Zukünftig wird KI auch im Labor Einzug halten, und sie kann bei der Kultivierung unserer Heilpflanzen ebenso wie in Agrarpartnerschaften eine interessante Rolle spielen. Wenn wir beispielsweise mit KI die Inhaltsstoffe und Wirkmechanismen unserer rund 800 Heilpflanzen erfassen, kann der Algorithmus je nach gewünschter Wirkung auf der Haut neue Pflanzenkombinationen vorschlagen.
Seit diesem Jahr sitzt mit Léa Steinacker eine ausgewiesene KI-Expertin im Weleda-VR. Was versprechen Sie sich von ihr?
Ich verspreche mir von Léa kontinuierliche Impulse bei der Digitalisierung und bei KI. Wir wollen in unserem Verwaltungsrat möglichst vielfältige Kompetenzen haben, also neben Pharma- und Finanzexpertise auch Digitalisierungs-Know-how. Léa kommt ursprünglich aus den Geisteswissenschaften und hat sich von da aus in den Tech-Bereich weiterentwickelt. Sie betrachtet Technologie und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft ganzheitlich. Sie ist für uns die perfekte Besetzung.
Welche Bedingungen sind Ihrer Meinung nach notwendig, damit die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine funktioniert?
Vor allem muss der Gender Bias beseitigt werden. Wenn Algorithmen nur von Männern trainiert werden, ist auch das Resultat entsprechend. Bittet man etwa ChatGPT: «Show me a CEO», präsentiert die KI einen Mann, obwohl das Wort «CEO» genderneutral ist. Diesen Bias auszumerzen ist schwierig, weil Algorithmen von Daten leben – und wenn die Daten nicht divers sind, kommt eben auch kein diverses Ergebnis heraus.
«KI ist für Weleda eine grosse Chance, effizienter und agiler zu werden.»
Wie bewerten Sie die aktuelle Regulierung von Technologien wie KI?
Die Regulatorien, die die EU geschaffen hat, sind meiner Meinung nach gut und ausreichend. Mehr Regulierung würde schaden, da wir sonst hinter andere Weltregionen wie die USA oder Asien zurückfallen. In Europa täte uns etwas mehr Mut zum Risiko ohnehin gut. Wenn wir vorangehen und Neues ausprobieren, können Wachstumschancen und neue Geschäftsmodelle entstehen. Dazu gehört auch Mut. Für Weleda beispielsweise ist es wichtig, zu den ersten Kosmetikmarken zu zählen, die ihre Produkte auf TikTok verkaufen. Wir haben klar den Anspruch, frontrunner zu sein.
Wie reagieren Ihre Mitarbeitenden auf solche technologischen Entwicklungen?
Es gibt bei Weleda viele Berufsfelder, in denen Digitalisierung keine Rolle spielt. Und doch ist es wichtig, dass auch die Mitarbeitenden in diesen Bereichen die Chancen der fortschreitenden Digitalisierung im Unternehmen begreifen. Eine klare Kommunikation ist dabei entscheidend. Als ich im Oktober 2023 bei Weleda anfing, machten wir im Shop erstmals den Black Friday mit. Da wurde dann diskutiert: Das haben wir bisher nie gemacht – muss das sein? Ist das richtig? Aus meiner Sicht ja, denn das sind die Spielregeln des Markts – wenn ich wachsen und wettbewerbsfähig sein möchte, muss ich im E-Commerce einen Black-Friday-Rabatt geben. Heute, fast ein Jahr später, ist das keine Diskussion mehr. Das Team hat verstanden, dass der Onlinekanal anders funktioniert als der stationäre Handel.
Wie stellen Sie sicher, dass Weleda menschenzentriert bleibt?
Unser Fundament und unser Purpose – «Gesundheit und Schönheit im Einklang mit Mensch und Natur» – sind so stark, dass wir unsere Mitarbeitenden wie auch unsere Konsument:innen nicht aus den Augen verlieren können. Technologie, wie wir sie verstehen, soll für die Menschheit, die Umwelt und den Planeten eingesetzt werden, nicht gegen sie.
«Technologie, wie wir sie verstehen, soll für die Menschheit, die Umwelt und den Planeten eingesetzt werden, nicht gegen sie.»
Welche technologischen Trends halten Sie in den nächsten fünf Jahren für entscheidend?
Die Rückverfolgbarkeit der Produkte wird ein wichtiges Thema: Ich kann mir vorstellen, dass jedes Weleda-Produkt einen QR-Code erhält, der etwa anzeigt, wo die einzelnen Inhaltsstoffe gewachsen sind und wann sie geerntet wurden. Jetzt schon absehbar ist auch, dass immer mehr Social-Media-Kanäle zu Verkaufsplattformen umfunktioniert werden, wahrscheinlich zu Lasten des stationären Handels. Der ganz grosse Trend im E-Commerce ist zudem die Personalisierung, die individuelle Ansprache: Je mehr ich über meine Kund:innen und ihre Vorlieben weiss, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihnen ein Produkt anbiete, das sie kaufen. KI wird dabei eine grosse Rolle spielen.