Die digitalen Innovationen der späten 1990er-Jahre hatten für die meisten Finanzdienstleistungen keine langfristigen Folgen. Ganz anders heute: Die grösste Herausforderung für die Branche stellt die Etablierung neuer Ansätze dar, mit denen sich die Auswirkungen der Technologie auf das Verhalten der Menschen beurteilen, eine effiziente Strategie ausformulieren und die Lösungen schnell, flexibel und proaktiv umsetzen lassen. Im Vordergrund steht also nicht unbedingt die Trendprognose oder das Reagieren auf einzelne Trends. Während neue Akteure den Finanzsektor umkrempeln, ist es für Etablierte noch nicht zu spät, aktiv werden – wenn sie es jetzt tun.
Die erste Internetrevolution in den späten 1990er-Jahren erschütterte die Struktur der Finanzdienstleistungen, doch sie veränderte diese nicht nachhaltig. Der technologische Fortschritt der letzten zehn Jahre, die regulatorischen Einschränkungen und das Nachbeben der Finanzkrise von 2008 lassen jedoch keinen Zweifel offen: Die digitale Transformation hat uns erreicht und wird nicht wieder verschwinden – im Finanzsektor ebenso wenig wie in anderen Branchen, die in der Digitalisierung noch weit hinterherhinken.
Im Finanzsektor tätige Führungskräfte, die in einer greifbaren materiellen Welt aufgewachsen sind und deren Infrastrukturen und Geschäftsmodelle über Jahrzehnte grösstenteils dieselben geblieben sind, können das als echte Herausforderung empfinden. Einige verschliessen einfach die Augen davor. Zum Beispiel werden Unternehmen, die Bitcoins verwenden, in den Medien immer noch verspottet. Richtig, die Blockchain-Technologie, die dem führenden virtuellen Währungssystem zugrunde liegt, ist so komplex und abstrakt, dass man ihre Funktionsweise nur als Experte versteht. Ganz zu schweigen von ihrer Macht, die Abwicklung von Finanzdienstleistungen ernsthaft zu beeinträchtigen. Denn wer kann schon garantieren, dass die Blockchain kein erheblicher Störfaktor wird? Oder vorhersagen, welche anderen neuen Technologien, wie künstliche Intelligenz oder virtuelle Realität, einen Durchbruch erleben und den Weg für vollkommen neue Geschäftsmodelle im Finanzsektor ebnen werden?
Niemand weiss es wirklich. Selbst die allmächtige Suchmaschine Google hatte das Potenzial von Apps vorerst unterschätzt. Das Unternehmen setzte alles auf seine Browser und musste anschliessend einen scharfen Kurswechsel vornehmen, um schnell aufzuholen. Die meisten Technologieexperten erstellen keine Prognosen für fünf oder auch nur drei Jahre in die Zukunft. Das hat Konsequenzen für die Führungskräfte der Finanzbranche, die Entscheidungen treffen und für ihre Organisation die Weichen stellen sollen – nicht nur für die Dauer ihrer Regentschaft, sondern auch für die Zeit danach.
Die Technologielandschaft verstehen
In den vergangenen Jahren waren die Führungskräfte des Finanzsektors damit beschäftigt, den Überblick über die neuen regulatorischen Vorschriften zu behalten. Verständlicherweise hatten sie also nur wenig Zeit, sich mit den neuesten technologischen Entwicklungen vertraut zu machen und deren Auswirkungen zu beurteilen. Kaum jemand hat einen vollständigen Überblick, und niemand kann die Zukunft vorhersagen. Dennoch schadet es nicht, die wichtigsten Trends zu verstehen und im Auge zu behalten. Hier einige der derzeit angesagten Technologien:
Crowdfunding, Peer-to-Peer-Kredite und Social Investment
Heute können Menschen über das Internet miteinander Kontakt aufnehmen. Sie benötigen keinen Vermittler in Form einer Grossbank mehr, um Geld zu borgen, auszuleihen oder zu investieren. Diese Tatsache könnte die Finanzdienstleistungen revolutionieren, gerade in Ländern der Dritten Welt, wo die meisten Menschen nur über ihr Smartphone einen Internetzugang haben. Die Banker der westlichen Hemisphäre sollten auf der Hut sein: Ein Grossteil der Kräfte, die die globale Transformation vorantreiben, haben ihren Ursprung nicht in den traditionellen Märkten, sondern in den Schwellenländern.
Künstliche Intelligenz (KI)
Der künstlichen Intelligenz wird noch immer nicht gebührend Beachtung geschenkt. Die ersten robotisierten Berater (von Algorithmen angetriebene Online-Investment-Plattformen) erobern Märkte mit einfachen Investmentprofilen. Zudem gilt es, das Potenzial zu berücksichtigen, das in der künstlichen Intelligenz schlummert, eines Tages die Mid- und Backoffice-Prozesse revolutionieren und damit den Faktor Mensch überflüssig machen könnte.
Big Data Analytics
Banken und Versicherungsgesellschaften haben schon immer Unmengen von Daten gehortet. Viele davon werden jedoch nicht verwertet. Da schrumpfende Gewinnmargen den Druck erhöhen und sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Verbraucher verschiebt, muss der Finanzsektor von anderen Branchen lernen, wie er diese wertvollen Daten nutzen kann, um mehr über die eigenen Kunden zu erfahren. Die Tools dazu liegen in Form von Big Data Analytics vor.
Virtuelle Realität (VR)
Seit den 1990er-Jahren hat die virtuelle Realität einen Quantensprung vollzogen. Diese Technologie, die einst auf abstrakte 3-D-Häuser und -Simulationen beschränkt war, wird sich massiv auf die Mainstream-Prozesse auswirken und sämtliche Branchen umkrempeln. Sie wird die Art, wie Menschen, Computer und Internet interagieren, radikal verändern. Man stelle sich nur eine Welt vor, in der die Kunden ihren virtuellen Kundenmanager in einer täuschend echten 3-D-Umgebung kontaktieren können, während sie nach der Arbeit in einem sich selbst lenkenden Auto nach Hause fahren. Wer wird da schon einen stundenlangen Flug in eine andere Stadt in Kauf nehmen, um dieselbe Beratung zu erhalten? Bleibt die Frage, ob die Akteure des Finanzsektors über die erforderliche Technologie und die notwendigen Prozesse verfügen werden, um mit ihren Kunden während dieser neu geschaffenen Zeitfenster zu interagieren.
Blockchain und Kryptowährungen
Bitcoins sind bereits zur Sprache gekommen. Ihre Schwächen sind schnell aufgezeigt. Enorm ist allerdings das Potenzial universeller Kryptowährungen, die keine Validierung einer Instanz wie zum Beispiel einer Bank benötigen, insbesondere in Schwellenländern mit Menschen ohne Zugang zu einer stabilen Währung und mit weniger Vertrauen in ihre Zentralbanker. Hier werden neue Kategorien von Zahlungsmitteln entstehen – und eine neue Art von Vertrauen: Digital Natives vertrauen Technologien und Algorithmen eher als Institutionen oder Personen. Das hat enorme Auswirkungen, mit denen der Finanzsektor umgehen können muss.