Im Fokus: Digitalisierung

Finanzdienstleistungen: digitaler Wegweiser zu mehr Kundenorientierung

Adrian Keller
Partner and Leader Audit for Blockchain

Die digitalen Innovationen der späten 1990er-Jahre hatten für die meisten Finanzdienstleistungen keine langfristigen Folgen. Ganz anders heute: Die grösste Herausforderung für die Branche stellt die Etablierung neuer Ansätze dar, mit denen sich die Auswirkungen der Technologie auf das Verhalten der Menschen beurteilen, eine effiziente Strategie ausformulieren und die Lösungen schnell, flexibel und proaktiv umsetzen lassen. Im Vordergrund steht also nicht unbedingt die Trendprognose oder das Reagieren auf einzelne Trends. Während neue Akteure den Finanzsektor umkrempeln, ist es für Etablierte noch nicht zu spät, aktiv werden – wenn sie es jetzt tun.

Die erste Internetrevolution in den späten 1990er-Jahren erschütterte die Struktur der Finanzdienstleistungen, doch sie veränderte diese nicht nachhaltig. Der technologische Fortschritt der letzten zehn Jahre, die regulatorischen Einschränkungen und das Nachbeben der Finanzkrise von 2008 lassen jedoch keinen Zweifel offen: Die digitale Transformation hat uns erreicht und wird nicht wieder verschwinden – im Finanzsektor ebenso wenig wie in anderen Branchen, die in der Digitalisierung noch weit hinterherhinken.

Im Finanzsektor tätige Führungskräfte, die in einer greifbaren materiellen Welt aufgewachsen sind und deren Infrastrukturen und Geschäftsmodelle über Jahrzehnte grösstenteils dieselben geblieben sind, können das als echte Herausforderung empfinden. Einige verschliessen einfach die Augen davor. Zum Beispiel werden Unternehmen, die Bitcoins verwenden, in den Medien immer noch verspottet. Richtig, die Blockchain-Technologie, die dem führenden virtuellen Währungssystem zugrunde liegt, ist so komplex und abstrakt, dass man ihre Funktionsweise nur als Experte versteht. Ganz zu schweigen von ihrer Macht, die Abwicklung von Finanzdienstleistungen ernsthaft zu beeinträchtigen. Denn wer kann schon garantieren, dass die Blockchain kein erheblicher Störfaktor wird? Oder vorhersagen, welche anderen neuen Technologien, wie künstliche Intelligenz oder virtuelle Realität, einen Durchbruch erleben und den Weg für vollkommen neue Geschäftsmodelle im Finanzsektor ebnen werden?

Niemand weiss es wirklich. Selbst die allmächtige Suchmaschine Google hatte das Potenzial von Apps vorerst unterschätzt. Das Unternehmen setzte alles auf seine Browser und musste anschliessend einen scharfen Kurswechsel vornehmen, um schnell aufzuholen. Die meisten Technologieexperten erstellen keine Prognosen für fünf oder auch nur drei Jahre in die Zukunft. Das hat Konsequenzen für die Führungskräfte der Finanzbranche, die Entscheidungen treffen und für ihre Organisation die Weichen stellen sollen – nicht nur für die Dauer ihrer Regentschaft, sondern auch für die Zeit danach.

Die Technologielandschaft verstehen

In den vergangenen Jahren waren die Führungskräfte des Finanzsektors damit beschäftigt, den Überblick über die neuen regulatorischen Vorschriften zu behalten. Verständlicherweise hatten sie also nur wenig Zeit, sich mit den neuesten technologischen Entwicklungen vertraut zu machen und deren Auswirkungen zu beurteilen. Kaum jemand hat einen vollständigen Überblick, und niemand kann die Zukunft vorhersagen. Dennoch schadet es nicht, die wichtigsten Trends zu verstehen und im Auge zu behalten. Hier einige der derzeit angesagten Technologien:

Crowdfunding, Peer-to-Peer-Kredite und Social Investment

Heute können Menschen über das Internet miteinander Kontakt aufnehmen. Sie benötigen keinen Vermittler in Form einer Grossbank mehr, um Geld zu borgen, auszuleihen oder zu investieren. Diese Tatsache könnte die Finanzdienstleistungen revolutionieren, gerade in Ländern der Dritten Welt, wo die meisten Menschen nur über ihr Smartphone einen Internetzugang haben. Die Banker der westlichen Hemisphäre sollten auf der Hut sein: Ein Grossteil der Kräfte, die die globale Transformation vorantreiben, haben ihren Ursprung nicht in den traditionellen Märkten, sondern in den Schwellenländern.

Künstliche Intelligenz (KI)

Der künstlichen Intelligenz wird noch immer nicht gebührend Beachtung geschenkt. Die ersten robotisierten Berater (von Algorithmen angetriebene Online-Investment-Plattformen) erobern Märkte mit einfachen Investmentprofilen. Zudem gilt es, das Potenzial zu berücksichtigen, das in der künstlichen Intelligenz schlummert, eines Tages die Mid- und Backoffice-Prozesse revolutionieren und damit den Faktor Mensch überflüssig machen könnte.

Big Data Analytics

Banken und Versicherungsgesellschaften haben schon immer Unmengen von Daten gehortet. Viele davon werden jedoch nicht verwertet. Da schrumpfende Gewinnmargen den Druck erhöhen und sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Verbraucher verschiebt, muss der Finanzsektor von anderen Branchen lernen, wie er diese wertvollen Daten nutzen kann, um mehr über die eigenen Kunden zu erfahren. Die Tools dazu liegen in Form von Big Data Analytics vor.

Virtuelle Realität (VR)

Seit den 1990er-Jahren hat die virtuelle Realität einen Quantensprung vollzogen. Diese Technologie, die einst auf abstrakte 3-D-Häuser und -Simulationen beschränkt war, wird sich massiv auf die Mainstream-Prozesse auswirken und sämtliche Branchen umkrempeln. Sie wird die Art, wie Menschen, Computer und Internet interagieren, radikal verändern. Man stelle sich nur eine Welt vor, in der die Kunden ihren virtuellen Kundenmanager in einer täuschend echten 3-D-Umgebung kontaktieren können, während sie nach der Arbeit in einem sich selbst lenkenden Auto nach Hause fahren. Wer wird da schon einen stundenlangen Flug in eine andere Stadt in Kauf nehmen, um dieselbe Beratung zu erhalten? Bleibt die Frage, ob die Akteure des Finanzsektors über die erforderliche Technologie und die notwendigen Prozesse verfügen werden, um mit ihren Kunden während dieser neu geschaffenen Zeitfenster zu interagieren.

Blockchain und Kryptowährungen

Bitcoins sind bereits zur Sprache gekommen. Ihre Schwächen sind schnell aufgezeigt. Enorm ist allerdings das Potenzial universeller Kryptowährungen, die keine Validierung einer Instanz wie zum Beispiel einer Bank benötigen, insbesondere in Schwellenländern mit Menschen ohne Zugang zu einer stabilen Währung und mit weniger Vertrauen in ihre Zentralbanker. Hier werden neue Kategorien von Zahlungsmitteln entstehen – und eine neue Art von Vertrauen: Digital Natives vertrauen Technologien und Algorithmen eher als Institutionen oder Personen. Das hat enorme Auswirkungen, mit denen der Finanzsektor umgehen können muss.

Das menschliche Verhalten verstehen lernen

Entwicklungen richtig deuten zu können, ist von Vorteil. Dennoch sollte die Aufmerksamkeit nicht der Technologie allein gelten. Denn damit diese einen Durchbruch erlebt, muss sie von Menschen angewandt werden. Um einen Hype von einer echten technologischen Goldgrube zu unterscheiden, muss man die Menschen und ihr Verhalten beobachten und darüber nachdenken, wie sich eine Technologie in den sozialen und wirtschaftlichen Kontext integrieren lässt. Dazu muss man kein Zukunftsforscher sein. Die echten Experten für die digitale Technologie sind unsere heutigen Kinder oder Enkel. Hier gilt es zu beobachten, was diese begeistert, welche Medien sie nutzen, wie sie damit umgehen und was sie nicht interessiert. Sie sind die nächste Generation, die Finanzdienstleistungen in Anspruch nehmen wird. Deshalb muss man ihre Anforderungen und Gewohnheiten verstehen – nicht die der älteren Generation, deren Denkweise wir alle bereits kennen.

Dieser technologisch-strategische Weitblick ist für alle Unternehmen – also auch für den Finanzsektor – entscheidend, die auch in den kommenden Jahrzehnten existieren möchten. Es gibt keine Garantie, dass man jedes Mal ins Schwarze trifft, aber es ist ein guter Anfang. Je nach Grösse und Art der Organisation kann sich diese den Weitblick in Form einer Beratung für die digitale Strategie und Umsetzung kaufen. Vieles lässt sich jedoch mit den vorhandenen Ressourcen erreichen. Deshalb sollten die Führungskräfte ihre Mitarbeiter dazu ermutigen, ihr technologisches Know-how und ihre Erfahrung in die Strategie-, Produktentwicklungs-, Vertriebs- und Geschäftsmodelle einfliessen zu lassen. Dies gilt insbesondere für die kreativeren und innovativeren Personalkräfte. Gerade diese sollen an den Prozessen aktiv teilhaben können.

Der Wandel der Mentalität und Ressourcenorganisation

Erfahrene Führungskräfte müssen den strategischen Weitblick als eine der Kernkompetenzen ihrer Organisation vermitteln und eine proaktive Strategie entwickeln, die das Potenzial und die Notwendigkeit einer digitalen Transformation zu den zentralen Themen ihres Geschäftsmodells macht. Das bedingt zudem die Erkenntnis, dass das Tempo der Veränderungen und die Unsicherheit, die damit einhergeht, einen neuen Ansatz für die Entwicklung und Umsetzung von Modellen, Produkten und Dienstleistungen erfordern. Das Wichtigste ist, einen Standpunkt zu beziehen und prompt zu reagieren, selbst wenn dabei ein noch unfertiges Angebot auf den Markt gebracht werden soll. In der digitalen Wirtschaft können Kunden mitentscheiden und erwarten häufig, dass ihnen diese Freiheit gewährt wird. Auf diese Weise eröffnen sich neue Möglichkeiten, um den Kunden zuzuhören und herauszufinden, was sie wirklich wollen und benötigen.

Unternehmen sollten keine Angst vor dem Umdenken haben und ein Versagen zugeben können. In der unberechenbaren Geschäfts- und technologischen Umgebung werden sie sowieso gelegentlich scheitern. Solche Fehler können die Unternehmen in ihre Pläne einbauen und Prozesse formalisieren, um Rückschläge in Lehrgeld zu verwandeln.

Auf den eigenen Stärken aufbauen

Zu erkennen, dass die digitale Transformation notwendig ist, bedeutet nicht, die eigenen Stärken zu vernachlässigen. Finanzdienstleistungsakteure mit einem guten Namen und Ruf können auch im digitalen Zeitalter auf ihre Vertrauenswürdigkeit bauen. Ein Kunde, der ein Hotelzimmer über eine Online-Sharing-Plattform bucht, mag einen etwas unerfreulichen Aufenthalt erleben, wenn das Zimmer nicht seinen Wünschen entspricht. Ein Kunde hingegen, der sein Geld über eine neue, noch nicht getestete Onlineplattform investiert, wird viel Geld verlieren, falls sich die Dinge unerwartet entwickeln. Ja, neue Akteure aus vollkommen anderen Sektoren könnten die Finanzwelt durchaus umgestalten. Doch etablierte Akteure mit einem vertrauenswürdigen Ruf und verlässlicher Erfahrung im Finanzsektor können sich hier immer noch einen höheren Wert zunutze machen als in den meisten anderen Branchen.

Erfahrene Führungskräfte des Finanzsektors sind zudem mit der regulatorischen Landschaft und den Herausforderungen der Compliance bestens vertraut. Sie können auf diese Erfahrung bauen und ein Gespür dafür entwickeln, in welche Richtung die Branche geht und wie die regulatorische Landschaft sich verändert. Wenn sie diese Erkenntnisse mit ihrem Technologieverständnis kombinieren, werden sie viel leichter erkennen, wie neue Technologien eine effizientere und effektivere Sicherstellung der Compliance ermöglichen. Denn das Tempo und die Reichweite der technologischen Veränderungen sind für Aufsichtsbehörden ebenso sehr wie für Banken und Versicherungsgesellschaften eine Herkulesaufgabe. Die Regulierung ist global, und die digitale Welt besitzt ein grosses Potenzial für regulatorische Arbitrage, wenn man sich damit auskennt.

Erforderliche Unterstützung prüfen

In jedem Geschäftsbereich existieren zahlreiche Möglichkeiten für externe Hilfe. Grosse Beratungsdienstleister bieten in der Regel Unterstützung entlang der gesamten Prozesskette – von der Eingliederung der digitalen Lösungen in die Geschäftsstrategie auf oberster Ebene bis hin zur Umsetzung neuer und nutzerfreundlicher digitaler Anwendungen für die Kunden. Auch sämtliche Schritte dazwischen, wie die Handhabung von Steuern, rechtliche Angelegenheiten und Compliance in verschiedenen Ländern auf der ganzen Welt, werden abgedeckt. Ein Unternehmen sollte prüfen, über welche Ressourcen es verfügt, welche Kompetenzen es aufbauen möchte und was es einkaufen will. Für ein Grossunternehmen kann sich ein eigenes Innovationslabor anbieten, für ein anderes ist die Zusammenarbeit mit einem externen Expertennetzwerk sinnvoll. Entscheidend für die Lösung mit dem besten Momentum sind das Verständnis der Probleme und das Vorhandensein einer klaren Strategie.

Fazit

Welche Technologien die Finanzdienstleistungswelt verändern werden und wie das geschehen wird, ist schwer vorauszusagen. Klar ist: Diese Veränderungen kommen. Die Digitalisierung zwingt die Wirtschaftsakteure dazu, ihre Geschäftsmodelle und Einstellungen zu überdenken. Dabei können Sie sich entweder zurücklehnen und auf die technologischen Entwicklungen reagieren. Oder Sie können die digitale Transformation als Gelegenheit nutzen, um näher denn je an Ihre Kunden heranzukommen. Dafür brauchen Sie jedoch nicht nur technologische Expertise, sondern auch Menschenkenntnis und die Fähigkeit, menschliches Verhalten zu verstehen. Beide Kompetenzen haben erfahrene Akteure des Finanzsektors schon immer besessen.

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Adrian Keller

Adrian Keller

Partner and Leader Audit for Blockchain, PwC Switzerland

Tel.: +41 58 792 23 09

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