Thomas Ebinger
Partner, Trusted advisor and audit expert for family business & middle market at PwC Switzerland
Thomas Ebinger ist Partner und Revisionsexperte für KMU, Familienunternehmen und Start-ups bei PwC Schweiz. Im Disclose erzählt er seine Geschichte und welche Rolle Zahlen dabei spielen. Warum und welche, lesen Sie am besten selbst.
Es war einmal ein kleiner Junge namens Thomas …
Keine Angst, liebe Leserinnen und Leser. Ich werde Sie nicht mit meiner Kindheit langweilen. Doch das ist nun mal der gewöhnliche Anfang einer gewöhnlichen Geschichte. Nun ist die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, allerdings keine gewöhnliche. Darum beginnt sie so:
Es war einmal ein Schweizer Familienunternehmen.
In diesem trafen unterschiedliche Interessen aufeinander: von Inhaberfamilie, Familienmitgliedern, älteren und jüngeren Generationen, Angehörigen, Mitarbeitenden und – immer stärker – von der Gesellschaft als Ganzes.
Das Familienunternehmen, über das ich spreche, könnte eine Zimmerei sein, die in der dritten Generation geführt wird. Ist es aber nicht, denn das wäre mein elterlicher Betrieb, den ich nicht übernommen habe. Wie gesagt, das ist eine andere Geschichte.
Das Familienunternehmen, um das es hier geht, produziert Fleischprodukte: Terrinen, Pasteten, Würste, Geräuchertes, Ready-to-heat-Gerichte. Es steht irgendwo im grünen Nirgendwo, die nächstgelegene Kleinstadt eine halbe Busstunde entfernt. Seit die Gastronomie aus dem Corona-bedingten Dornröschenschlaf erwacht ist, steuert das B2B-Geschäft auf das Niveau von vor der Pandemie zu. Der Direktverkauf über die hauseigenen Metzgereien im eigenen Dorf und fünf Haltestellen weiter floriert wie eh und je.
Das Traditionshaus wird derzeit in der vierten Generation geführt. Der Eigentümer und Inhaber – der Patron, wie ihn alle im Betrieb liebe- und respektvoll nennen – hat das Rentenalter knapp erreicht. Er hält die Geschicke des Unternehmens als CEO und Verwaltungsratspräsident in festen Händen. Die Unternehmerfamilie umfasst fünf Kinder, zwei Mädchen und drei Jungs. Zwei der Söhne stammen aus einer ersten Ehe der Gattin. Die zwei Töchter sind im Betrieb engagiert, die eine als Produktionsleiterin, die andere als Verkaufsleiterin.
Die Erstgeborene und aktuelle Produktionsleiterin fühlt sich der Nachhaltigkeit verpflichtet und will die gesamte Energieversorgung der Produktion auf eine zukunftsfähige Basis stellen. Mit anderen Worten: Sie will in Anlagen von mehreren Millionen Franken investieren. Die Zweitälteste und Verkaufsleiterin möchte das Unternehmen an den Bedürfnissen der Kunden ausrichten und ein Customer Relationship Management einführen; sie veranschlagt dafür rund eine halbe Million Franken.
Derweil hat der Vater andere Probleme. Er versucht, seine B2B-Kunden bei Laune zu halten, konkurriert dabei aber mit Billigfleischimporten. Ausserdem möchten seine beiden Stiefsöhne nichts mit dem Unternehmen zu tun haben und ausbezahlt werden. Und schliesslich steht sein eigener Sohn im Controlling eines Lebensmittelkonzerns unter Vertrag und denkt über einen Start im familieneigenen Betrieb nach.
Kurze Verschnaufpause.
Sie fragen sich zu Recht, was das alles mit Assurance oder mit mir als Wirtschaftsprüfer zu tun hat. Mehr, als Sie vermuten.
Nehmen wir einmal an, PwC sei die Prüfgesellschaft dieses Unternehmens. Und gehen wir davon aus, dass ich der zuständige Mandatsleiter sei. Vielleicht bin ich das geworden, weil ich eine typische NextGen vertrete. Vielleicht, weil der Patron als Oberst im Ruhestand grosse Stücke auf Menschen mit einer militärischen Ausbildung hält – zum Beispiel auf die Offizierslaufbahn, wie ich sie bei der Schweizer Luftwaffe eingeschlagen habe. Oder aber ich bin zum Zug gekommen, weil ich als gelernter Augenoptiker meinen Kunden gut zuhören kann. Vielleicht wars auch einfach nur Zufall.
Wenn wir das alles annehmen, dann kann die Story jetzt weitergehen.
Da ich dieses Unternehmen schon lange begleite, weiss ich, wie sich das Businessmodell über die Jahre entwickelt hat: von der Kleinproduktion mit manuellen Handgriffen zur automatisierten Grossproduktion mit 340 Mitarbeitenden über sämtliche Unternehmensteile der Gruppe verteilt. Ich kenne sowohl die strategischen Herausforderungen wie Wachstumsfinanzierung, Governance, Risikomanagement, Cybersicherheit oder anstehende Investitionen als auch operative Details wie Lebensmittelsicherheitsvorgaben, Lieferengpässe, MWST- und Zoll-Fragen. Und natürlich kenne ich die Zahlen.
Das Familienunternehmen hat zu wenig eigene Kapazitäten, um sich um mehr als eine korrekte Betriebsbuchhaltung und den Jahresabschluss zu kümmern. Darum treffe ich mich mindestens vier Mal jährlich vor Ort mit dem Patron, seinen beiden Söhnen und dem externen CFO, die zusammen die Geschäftsleitung des Unternehmens bilden.
"Offenbar sieht er in mir einen Sparring Partner, der seinen Betrieb unvoreingenommen von aussen be-trachtet. Der bei Bedarf die richtigen Expert:innen hinzuzieht, wenn es um Fragen geht, für die seine Inhouse-Kompetenzen oder meine nicht ausreichen."
Thomas EbingerDieser Bericht ist sicherlich nicht der Grund, warum mein Kunde mich regelmässig sehen möchte. Gut möglich, dass er von unserer hochwertigen Prüfarbeit überzeugt ist. Vielleicht bin ich ihm sympathisch. Eventuell weiss er, dass ich aus einem Generationenunternehmen stamme. Sicher weiss er, dass ich kein finanzielles Interesse an seinem Unternehmen habe. Offenbar sieht er in mir einen Sparring Partner, der seinen Betrieb unvoreingenommen von aussen betrachtet. Der bei Bedarf die richtigen Expert:innen hinzuzieht, wenn es um Fragen geht, für die seine Inhouse-Kompetenzen oder meine nicht ausreichen. Schliesslich – da bin ich mir ganz sicher – vertraut er mir.
Noch heute erinnere ich mich an den Tag, an dem mich der Patron unerwartet sprechen will. Er schlägt einen Lunch in einem Zürcher Restaurant vor. Dort legt er eine Frage auf den Tisch, die in vielen Familienunternehmen ansteht: Wie sieht das Finanzielle für den Fall aus, dass sein jüngster Sohn nun doch daheim einsteigen möchte. Es müsste eine leitende Position geschaffen oder der CFO entlassen werden, mit entsprechenden Auswirkungen auf den Overhead. Und die Eigentümerverhältnisse müssten neu geregelt werden, mit Konsequenzen für die Kapitalstruktur.
Der Patron möchte die Sache am liebsten über mehrere Jahre etappieren für den Fall, dass der Jüngste seine Pläne ändert oder sich schlicht nicht eignet. Gleichzeitig sieht er eine Gelegenheit, seine beiden operativ tätigen Töchter noch stärker am Unternehmen zu beteiligen. Wir diskutieren Alternativen, Chancen, Risiken, Vor- und Nachteile. Und ich verspreche ihm, dass ich ihn mit unserem Expertenteam für Unternehmensentwicklung und -nachfolge in Verbindung setze.
Wir gehen auseinander und ich weiss: Mein Kunde hat mir soeben jene Story erzählt, die mir die Zahlen in einem oder mehreren Jahren berichten werden. Denn Zahlen erzählen immer eine Geschichte. Genau wie ich hier im Disclose.
"Die meisten Wirtschaftsprüfer lesen diese Zahlen, wie sie es gelernt haben: als Tabellen der Rechnungslegung, als Jahres-, Halbjahres- oder Quartalsabschluss. Ich lese sie wie ein Buch."
Thomas EbingerDie meisten Wirtschaftsprüfer lesen diese Zahlen, wie sie es gelernt haben: als Tabellen der Rechnungslegung, als Jahres-, Halbjahres- oder Quartalsabschluss. Ich lese sie wie ein Buch. Denn als Revisor muss ich nicht nur sicherstellen, dass die Zahlen richtig sind. Sondern auch, dass die Story richtig erzählt wird.
Sie runzeln die Stirn? Nicht nötig.
Ich spreche hier nicht davon, Zahlen «zurechtzubiegen». Ich spreche davon, dass die Informationen, die aus einer Finanzbuchhaltung hervorgehen – die Zahlen –, ein tatsächlich den Verhältnissen entsprechendes Bild wiedergeben, so den jeweiligen Anspruchsgruppen kommuniziert und von diesen auch richtig verstanden werden.
In meinem Beispiel ist das Narrativ erfreulich: Der Einstieg des jüngsten Sohnes im Familienbetrieb wird in die Wege geleitet, die Eigentümerverhältnisse neu geregelt. Doch gerade wenns einmal nicht so gut läuft, ist ein schlüssiger Plot umso wichtiger. Nicht immer sind nur Umsätze oder Erträge betroffen. Oft geht es auch um Anlagen, die an Wert verlieren, um Investitionen, die erst in ein paar Jahren Wirkung zeigen, um Goodwill, der schrumpft.
Bei meinem Mandat aus der Fleischbranche werden mir die Zahlen noch viele Geschichten erzählen. Über die Investition in neue Produktionsanlagen, die den ökologischen Fussabdruck des Unternehmens verkleinern. Über die Immobilien, die als Erbvorbezug an die Stieftöchter übergehen. Über das neue CRM-System, das eine Reihe von Digitalisierungsmassnahmen nach sich zieht. In all diesen Storys werde ich die Sphären von Familie und Unternehmen übereinanderschieben müssen, um sie zu verstehen und richtig zu interpretieren.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.
So könnte die Geschichte enden. Doch diese Geschichte braucht kein Ende, weil es sie nicht gibt. Denn es existiert weder das Familienunternehmen aus der Fleischbranche noch das Mandat in meinem Portfolio.
Wahr und absolut real ist jedoch meine Funktion als Geschichtenerzähler im Assurance. Als solcher liegt es in meiner Verantwortung, den Kontext der Zahlen zu erkennen, Perspektiven aufzuzeigen und die Story mit dem Blick für die Realität zu transportieren. Damit sie mit einem Happy End abschliesst.
Thomas Ebinger