Die Debatte im Schweizer Gesundheitswesen dreht sich um steigende Kosten und Krankenkassenprämien, Versorgungssicherheit, den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung und den Fachkräftemangel. Gefordert werden schnelle Reformen, um bürokratische Ineffizienz zu bekämpfen. Besonders oft erwähnt werden die dringend notwendige Digitalisierung, die Standardisierung – insbesondere im Datenaustausch – und der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI).
Dabei geht oft vergessen, dass das Gesundheitswesen bereits heute stark von IT-Systemen abhängt. In Spitälern, Arztpraxen und bei anderen Branchenakteuren fallen massenhaft elektronische Daten an. Diese sind oft sensibel und schützenswert – und allzu oft unzureichend geschützt.1
KI gilt als Schlüsseltechnologie für Automatisierung und mehr Effizienz. Doch sie birgt neue Herausforderungen wie Datenqualität und -sicherheit. Damit KI Gesundheitsdaten sinnvoll nutzen kann, müssen diese relevant, präzise und vom Eigentümer für diesen Verarbeitungszweck freigegeben sein. Zudem erfordert KI enorme Rechen- und Speicherkapazitäten. Deshalb werden leistungsfähige Modelle in der Regel aus der Cloud bezogen. Zwar könnte man auch versuchen, die KI zu den Daten zu bringen. Im dezentralen Gesundheitssystem der Schweiz ist es jedoch zielführender, die Daten zur KI in eine Cloud zu bringen. Diese könnte auch eine private Cloud sein.
Im Gesundheitswesen fehlen übergreifende, verpflichtende Mindestanforderungen für den Grundschutz der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), eine systematische, koordinierte Überprüfung des Schutzniveaus und eine Meldepflicht für erfolgreiche Cyberangriffe. Das Fehlen eines verbindlichen IKT-Minimalstandards gefährdet nicht nur den Datenschutz, sondern auch die Betriebssicherheit und die Resilienz medizinischer Einrichtungen.
Zwar stuft die nationale Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen (SKI) 2 im Anhang 1 das Gesundheitswesen, die medizinische Versorgung, Labordienstleistungen, Chemie und Heilmittel als kritische Infrastruktur ein. In der revidierten Fassung hält sie in Kapitel 7.1 fest: «Die Umsetzung der nationalen SKI-Strategie erfolgt dezentral im Rahmen der bestehenden Strukturen und Zuständigkeiten. Insbesondere liegt die Verantwortung für die Resilienz der kritischen Infrastrukturen bei den Betreiberinnen und den sektoriellen Fach-, Aufsichts- und Regulierungsbehörden.» Neu hinzugekommen ist 2023 die Geschäftsstelle SKI im Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS). Diese muss für die «übergeordnete Koordination» der Umsetzungsarbeiten sorgen. Im Gesundheitsbereich sind gemäss SKI-Strategie das BAG, das BABS und weitere Stellen wie Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) und Swissmedic für die Umsetzung zuständig. Das Parlament hat die Meldepflicht für Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen in der Frühjahrssession 2025 für den 1. April 2025 in Kraft gesetzt.
Das BWL hat bis 2024 IKT-Mindeststandards für verschiedene Bereiche der kritischen Infrastrukturen publiziert. Diese Zuständigkeit ist seit 1.1.2024 auf das Bundesamt für Cybersicherheit (BACS) übergegangen. Derzeit gibt das BACS allerdings nur Empfehlungen für Private, KMU und Behörden, jedoch keine verbindlichen IKT-Minimalstandards heraus.
Das BAG hat für die Datensicherheit im elektronischen Patientendossier (EPD) einen umfassenden Sicherheitsstandard und ein Zertifizierungsverfahren festgelegt. Das bedeutet, dass sich die Betreibenden des EPD und die Stammgesellschaften von einer akkreditierten Prüfstelle in einem aufwändigen Verfahren prüfen und zertifizieren lassen müssen. Reicht das aus?
In der Realität sind die Gesundheitsdaten der Patient:innen sehr fragmentiert und befinden sich bei der Ärzteschaft, im Spital, bei den Versicherungen (Grund- und Zusatzversicherung), beim Kanton (für die Kostenübernahme) und bei den Labors. Das EPD setzt zwar sehr hohe Sicherheitsstandards an, ist aber heute freiwillig und noch nicht die zentrale Ablage für elektronische Patientendaten, die es einmal werden soll. Zusätzlich sind viele der im Gesundheitswesen notwendigen Prozesse, Infrastrukturen und Dienstleistungen an Drittfirmen ausgelagert.
Im Rahmen der Analyse der SKI-Strategie wurde erhoben, wie stark die verschiedenen Bereiche der kritischen Infrastruktur von Auslagerungen an IT-Dienstleistende betroffen sind und diese somit ebenfalls als kritische Infrastruktur gelten. Sowohl Versicherungen als auch Krankenkassen, Ärzt:innen und Spitäler sind sehr stark, Labors etwas weniger und die chemisch-pharmazeutische Industrie wiederum etwas stärker von externen IT-Dienstleistenden abhängig (vgl. Abbildung).
Grundsätzlich verfügt jede zu versorgende Person über ihre eigenen medizinischen Daten. In die Bearbeitung ihrer Gesundheitsdaten muss sie nämlich ausdrücklich einwilligen. Ein Grossteil dieser Daten sind allgemeine sowie besonders schützenswerte Personendaten gemäss Datenschutzgesetz. Nach Art. 321 des Strafgesetzbuches gehört die medizinische Fachperson einem Berufsstand mit Berufsgeheimnis an. Daten über die Gesundheit unterstehen damit zudem dem Arztgeheimnis. Das bedeutet, dass die behandelnde Fachperson im Fall einer Weitergabe schutzwürdiger Patientendaten bei der Auswahl, der Instruktion und der Überwachung der Hilfsperson die nötige Sorgfalt aufzeigen muss. Sie muss sicherstellen, dass die Hilfsperson – also auch die IT-Dienstleister - die Daten nur so bearbeitet, wie sie es selbst tun dürfte. Auch müsste sich die behandelnde Fachperson vergewissern, dass die Daten verschlüsselt übermittelt werden und keine Unbefugten darauf zugreifen können. In der Praxis sieht das häufig so aus, dass die zu versorgende Person keinen Überblick hat, wo überall ihre Daten gespeichert sind und wer darauf zugreifen kann. Ob das ärztliche Fachpersonal seiner Sorgfaltspflicht zur Instruktion und Überwachung der Hilfspersonen tatsächlich nachgekommen ist, prüft niemand.
Zuständig sind wie erwähnt Bund, Kantone und Betreibende. Also viele und somit gleichermassen niemand – mit wenigen Ausnahmen:
Für Arztpraxen, Spitäler, Grundversicherer, Labors und IT-Dienstleistende im Gesundheitswesen gibt es keine verbindlichen Vorgaben – nur Empfehlungen – für den IKT-Grundschutz. Zudem fehlt eine systematische Überwachung.
Aus der fachlichen Sicht sind für Informationssicherheit und Cybersecurity die Vorgehensweisen und Massnahmen nach den Industriestandards des National Institute of Standards and Technology (NIST) oder ISO 27’000 klar und schlüssig definiert. Es muss lediglich ein branchenspezifischer Minimalstandard definiert werden, damit nicht jeder Leistungserbringer und IT-Dienstleister das «anwendbare Mass an IKT-Sicherheit» selbst interpretieren und festlegen kann, sondern dass ein regelbasierter, prüfbarer IKT-Minimalstandard vorliegt. Die Massnahmen lassen sich in Sofortmassnahmen und mittelfristige Massnahmen unterteilen:
Die Informationssicherheit und die Cyberresilienz des Gesundheitswesens haben sich in den letzten Jahren nicht verbessert, obwohl die Herausforderungen zugenommen haben. Mit dem aktuellen Ansatz sind Patientendaten nicht angemessen geschützt. An die Eigenverantwortung der Betreibenden zu appellieren, um die Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen im Gesundheitswesen umzusetzen, greift zu kurz. Ohne branchenspezifische, regelbasierte Vorgaben, klare Zuständigkeiten und die Überwachung durch eine nationale Aufsichtsstelle für Cybersecurity wird sich die Situation nicht verbessern.
Gefragt sind nun Taten und nicht Worte. Schützenswerte Daten und Patienteninformationen werden immer zahlreicher, ebenso die Teilnehmenden im Gesundheitswesen. Die Daten werden digital geteilt und an verschiedensten Stellen gespeichert. Patient:innen haben Übersicht und Kontrolle über die Gesundheitsdaten längst verloren. Zudem fehlen die Mittel, diese zu verwalten. Das Gesundheitssystem wird mit Prämien und Steuergeldern finanziert. In der Regel bestimmt, wer bezahlt. So liegt ein Teil der Verantwortung auch bei den Auftraggebenden und den Geldgebenden. Alle Beteiligten müssen den Wandel einfordern, die notwendigen Veränderungen aber auch akzeptieren. Informationssicherheit und Datenschutz werden derzeit vor allem als Kostentreiber betrachtet, die man lieber einsparen möchte. Die Verantwortlichen müssten gute Informationssicherheit und Datenschutz als «Preis für die Geschäftstätigkeit im Gesundheitswesen» verstehen – nicht als vermeidbare Mehrkosten.
Drei wichtige Branchenakteure können schon heute zur Tat schreiten:
Mittelfristig gilt es das schwierige Konstrukt der Datenverantwortung zwischen Patient:innen, Ärzteschaft, Leistungserbringern, Kostenträgern und Datenschutzbeauftragten zu vereinfachen und in nachvollziehbaren Anwendungsfällen abzubilden. Mit der e-ID ab 2026 erhalten die Einwohner:innen der Schweiz eine digitale Identität. Damit kann es das EPD nutzen und selbst prüfen oder jemanden dazu bevollmächtigen, die Zugriffe auf die Gesundheitsdaten zu regeln und zu überwachen. Patient:innen sollen wissen, welche Gesundheitsdaten wo gespeichert sind und welche Leistungserbringer diese nutzen.
Voraussetzung für eine durchgängige Digitalisierung des Gesundheitswesens ist das EPD als Plattform für die Falldaten der zu versorgenden Person, für Basisdaten wie Allergien, Impfungen und die aktuelle Medikation. Diese Daten lassen sich für die Verbesserung der Dienstleistungsqualität, der Forschung oder weitere Zwecke nutzen – allerdings nur, wenn Informationssicherheit und Governance gewährleistet sind und die Patient:innen wissen, wer die Daten zu welchem Zweck nutzt.
1 Vgl. «Analyse der Cybersicherheit von Klinikinformationssystemen (KIS)», Nationales Testinstitut für Cybersicherheit, 23. Januar 2025
2 Vgl. «Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (SKI)», Schweizerischer Bundesrat, 16. Juni 2023
3 Vgl. «Die FINMA und die Krankenzusatzversicherung», FINMA, 1. Januar 2023
Spitäler übermorgen – so entwickelt sich das Gesundheitswesen
Lorenz Neher