«Stabilität gibt es nun mal nicht zum Nulltarif.»

Interview mit Martin Matter, ehem. Chief Technology Officer am Kantonsspital Aarau

David Roman
Director, Leiter Digital Health
PwC Schweiz

Martin Matter, ehem. Chief Technology Officer (CTO) beim Kantonsspital Aarau (KSA), erläutert im Gespräch mit David Roman, Leiter Digital Health PwC Schweiz, warum viele Spitäler in der digitalen Transformation hinterherhinken und wie das perfekt digitalisierte Spital aussähe. Und was er für sein Spital tun würde, wenn er unendlich viel Zeit, Geld und Ressourcen zur Verfügung hätte.

PwC: Wo steht das KSA heute bei der Digitalisierung und was sind Ihre Schwerpunktthemen?

Martin Matter: Wer in der Digitalisierung vorankommen will, muss sich modernisieren. Der Neubau «Dreiklang» soll ab 2026 bezugsbereit sein. Er rückt Bettenstationen, Funktionsbereiche und Ambulatorien physisch zusammen, was auch aus technischer Sicht optimal ist. Aktuell arbeiten wir daran, die Basisinfrastruktur für eine nachhaltige Digitalisierung zu erneuern und bereitzustellen. Dabei konzentrieren wir uns unter anderem auf die Digitalisierung von Prozessen. 

Die digitale Transformation hat sich im Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen Branchen spät durchgesetzt. Warum?

IT galt im Spitalwesen lange Zeit (zum Teil heute noch…) als Kostentreiber statt als Effizienzgewinner. Im Laufe der Jahre haben sich nicht nur die Inhalte verändert, sondern auch die Rolle der Informatik. Heute gilt sie als Möglichmacher. Man kann ein Spital mit einer Holding vergleichen, die bis zu 50 KMUs mit unterschiedlichen Anforderungen unter sich vereint. Andere Branchen mit ähnlichen Strukturen, wie Banken oder Versicherungen, haben schon lange zentrale Systeme etabliert. Das KSA ist, wie die meisten grossen Spitäler in der Schweiz, historisch gewachsen und auf unzählige Gebäude verteilt – nicht nur für die IT ein Albtraum. Im Neubau werden wir technische Geräte optimal einsetzen können und damit enorm an Wirtschaftlichkeit und Effizienz gewinnen. 

«IT galt im Spitalwesen lange Zeit als Kostentreiber statt als Effizienzgewinner.»

Aus unserer Beratungstätigkeit wissen wir, dass Technologien in Digitalisierungsprojekten oft gar nicht erfolgsentscheidend sind. Weitaus wichtiger sind Organisation und Engagement. Wie sehen Sie das?

Genauso. Es braucht Personen aus dem Kerngeschäft, die einen bestehenden Prozess hinterfragen und etwas Neues wagen. Nur so lässt sich ein Prozess effizienter gestalten. Die digitale Transformation besteht in erster Linie darin, Personen von einer neuen Technologie zu überzeugen, Prozesse fundamental zu verändern und alle Mitarbeitenden auf diese Reise mitzunehmen. Viele Projekte scheitern an unterschiedlichen Prioritäten – nicht an der Technologie. 

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«Viele Projekte scheitern an unterschiedlichen Prioritäten – nicht an der Technologie.»

Welche Erfolgsfaktoren sehen Sie für eine erfolgreiche Digitalisierung?

Finanzen, Organisation, Harmonisierung, Priorisierung. Wir sprechen von Demand Management. Das bedeutet, dass wir die Probleme zuerst verstehen müssen, um übergreifende Lösungen zu finden. Bei der KSA konzentrieren sich drei Personen einzig darauf, Bedürfnisse – sogenannte «Demands» – abzuholen. Danach suchen sie nach ähnlichen, bestehenden Lösungen in anderen Spitalbereichen oder auf dem IT-Markt, wo interessante Lösungen zu finden sind. Ich bin davon überzeugt, dass so Bestleistungen gezeigt können.

Weshalb wurde die IT im KSA erst jetzt als übergreifende Funktion etabliert?

Spitäler agieren insgesamt träge. Immerhin ist die Erkenntnis, dass die IT eine übergeordnete Rolle spielt, angekommen. Doch die Kostenfrage wird bleiben. Denn einerseits werden die IT-Kosten in den nächsten Jahren weiter steigen. Und andererseits ist es illusorisch zu glauben, mehr Effizienz würde IT-seitig nichts kosten.

Wie lässt sich dieses Verständnis weiter fördern?

Ich verstehe es als Dauerauftrag, den Entscheidungstragenden im Haus zu zeigen, was wir aufgebaut haben; und dass eine performante und zuverlässige Basisinfrastruktur Geld kostet. Kurzfristig betrachtet wäre es günstiger, alles selbst zu machen. Aber wer die Nachteile der Fluktuation und der ständigen Suche nach überdurchschnittlichen Mitarbeitenden berücksichtigt, wechselt wie wir beim KSA zu Outsourcing. Das ist meiner Meinung nach die nachhaltigere Strategie. Wir bezahlen zwar mehr für einen guten Anbieter, das verschafft uns aber Ressourcen, unsere eigenen Prozesse zu verbessern. Operationelle Stabilität gibt es nun mal nicht zum Nulltarif.

Was würden Sie jemandem raten, der neu in Ihrem Job ist?

Erstens Geduld. Zweitens Beharrlichkeit. Und drittens gute, langfristige Planung. Im Gesundheitswesen lässt sich nichts schnell umsetzen. Um auf die Analogie zu einer Holding zurückzukommen: Harmonisierungsaufgaben gibt es überall und dauernd. Um etwas zu bewegen, braucht man Geduld, Beharrlichkeit und einen Plan. Dieser muss jedes Jahr von den übergeordneten Gremien abgesegnet werden. Schliesslich sollte man sich auf etwas berufen können.

Was würden Sie mit unlimitiert Geld, Zeit und Ressourcen unternehmen?

Ich würde versuchen, eine perfekte IT-Architektur zu bauen. Dazu würde ich ein Team mit Topleuten zusammenstellen: zwei bis drei dynamische Ärzt:innen aus verschiedenen Disziplinen, zwei bis drei Pflegeprofis, eine Fachperson aus der Finanzwelt und zwei bis drei IT-ler:innen. Dieses Team würde ich ein halbes Jahr lang in die operativen Betriebe schicken, Analysen durchführen und Informationen und Umsetzungsideen sammeln lassen. Damit würde ich eine Kostenschätzung erstellen und sie dem Verwaltungsrat vorlegen. So könnte dieser die Zukunft eines optimal digitalisierten Spitals absegnen.

Wie sieht eine solche denn aus?

In einem perfekt digitalisierten Spital würden die meisten Mitarbeitenden mit höchst mobilen Geräten arbeiten. Disposition, Alarmierung und alle administrativen Tätigkeiten würden patientenzentriert über zentrale Geräte gesteuert.

Mit anderen Worten: Gleich wie heute, nur digitaler?

Ja und nein. Der Grundsatz unseres Geschäfts wird sich nicht verändern. Wir werden auch in Zukunft viele Patient:innen bei uns betreuen und Personen koordinieren müssen, die für und mit diesen Patient:innen arbeiten. Roboter werden hier nur begrenzt unterstützen können. Die administrativen Prozesse müssen digital weiterkommen. Im idealen Spital sind Patient:innen optimal darüber informiert, wann was mit ihm/ihr geplant ist. Die Digitalisierung kann dabei enorm nützlich sein. KI-Anwendungen werden sich im Spital sehr rasch ausbreiten.

Martin Matter war bis Oktober 2022 CTO beim KSA. Als solcher trug er die Verantwortung für alle technischen Aspekte in den Bereichen Informations-/Kommunikationstechnologie (ICT) und Medizintechnologie (MT). Von 2014 bis 2018 war der diplomierte Betriebsökonom Mitglied der Spitaldirektion am Universitätsspital Zürich (USZ). Er hatte die ähnliche Funktion als Direktor ICT/CIO inne. Zuvor war er über acht Jahre beim Kanton Aargau tätig, unter anderem fünf Jahre als Leiter Informatik Aargau. Zu den früheren Stationen gehören Oerlikon Contraves und Sulzer Metco. Auch hier hatte er sich bereits mit ICT-Themen beschäftigt.

«Im idealen Spital sind Patient:innen optimal darüber informiert, wann was mit ihm/ihr geplant ist.»

Klingt nach mehr Integration, auch für Patient:innen.

Stimmt. Beim Banking ist alles voll integriert. Als Bankkund:in kann ich Informationen zu meiner Finanzsituation jederzeit abrufen und von daheim aus oder über mein Mobilgerät steuern. Als Patient:in kann ich das noch nicht vollumfänglich. Patientenportale werden eine zentrale Rolle spielen. Im digitalen Zeitalter ist es wenig sinnvoll, Patient:innen in unterschiedlichen Spitälern immer wieder nach Stammdaten wie Name, Adresse und wichtigen Gesundheitsdaten zu fragen. Mit Schnittstellen ins Klinikinformationssystem oder ins elektronische Patientendossier kann das Spitalwesen hier einiges effizienter werden. Irgendwann sollten Patientendaten, Eintrittsinformationen, Angaben zu Behandlung und Nachbehandlung und alle digitalen Gesundheitsdaten vollständig integriert sein.

Warum funktioniert das in den Spitälern noch nicht?

Die Harmonisierung über alle Kliniken hinweg ist eine Herkulesaufgabe. Manche Betriebe funktionieren voll digitalisiert und arbeiten auch so mit ihren Patient:innen. In anderen ist das noch nicht der Fall. Manche lassen sich nur schwer umstrukturieren, da es wegen des dominierenden Tagesgeschäfts oft an Ressourcen fehlt, analoge Prozesse zu überarbeiten und zu verbessern.

Betrachten wir die gesamte Schweiz. Was läuft aus Ihrer Sicht gut und wo hat das Gesundheitswesen seine Hausaufgaben noch nicht gemacht?

Der grosse Durchbruch würde dann gelingen, wenn wichtige Gesundheitsdaten schweizweit strukturiert vorlägen. Denn um Befunde und Berichte zu organisieren und abzulegen, müssten diese Daten strukturiert und zentralisiert für alle Akteur:innen zugänglich vorliegen. Ausserdem müssten wir in diesem Bereich die föderalistischen Hürden deutlich senken. Die Aufgaben und Verantwortlichkeiten im Schweizer Gesundheitswesen sind föderalistisch auf Bund, Kantone und Gemeinden aufgeteilt. Das macht die Harmonisierung zum Beispiel für ein elektronisches Patientendossier trotz Standardvorgaben zur Datenablage fast unmöglich.

Was bleibt zu tun?

In der digitalen Gesundheit ist vieles auf gutem Weg – manches einfach arg verspätet. Ich denke da an Themen wie Patientendatensätze oder austauschbare Datenformate. Der Datenschutz spielt dabei eine Schlüsselrolle und stellt eine grosse Hürde dar. Beim KSA hat es uns Jahre gekostet, alle für das elektronische Patientendossier erforderlichen Anforderungen zu erfüllen. Nun sind wir voll im System integriert. Wir haben einiges in diese Technologie investiert; ich bin überzeugt, dass sich das mittelfristig auszahlen wird. Weitere Spitäler werden nachziehen, sobald sich der (grosse) Aufwand auch finanziell positiv auswirken wird. Meines Erachtens sollten Bund und Kantone dem digitalen Gesundheitswesen mehr Bedeutung einräumen. Zum Beispiel müsste die Teilnahme am elektronischen Patientendossier für (Haus-)Ärzt:innen verpflichtend sein. Sonst ändert sich am Status quo noch lange nichts.

Herr Matter, vielen Dank für das Gespräch.

«Bund und Kantone sollten dem digitalen Gesundheitswesen mehr Bedeutung einräumen.»

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David Roman

David Roman

Partner, Digitale Transformation Gesundheitswesen, PwC Switzerland

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