Telemedizin und künstliche Intelligenz: Potenzial für die Schweizer Gesundheitsversorgung

Interview mit Dr. Philipp Wustrow, Mitgründer von OnlineDoctor

Tania Putze, Managerin, Beratung Gesundheutswesen, PwC Switzerland

Dalia Herzog
Senior Consultant, Beratung Gesundheitswesen, PwC Switzerland

Tania Putze, Managerin, Beratung Gesundheutswesen, PwC Switzerland

Gian-Andrea Degen
Senior Consultant, Beratung Gesundheitswesen, PwC Switzerland

Die rasante Entwicklung der Telemedizin kombiniert mit künstlicher Intelligenz (KI) verspricht innovative Zukunftslösungen für das Gesundheitswesen in der Schweiz. Auch wenn grundsätzlich Optimismus herrscht, sehen sich Telemedizinanbieter mit diversen Herausforderungen konfrontiert. Die digitale Leistungserbringung bleibt im TARMED unberücksichtigt; im Tarifvorschlag TARDOC hingegen sind Möglichkeiten vorhanden. Mit Dr. Philipp Wustrow, Mitgründer von OnlineDoctor, sprechen wir exklusiv über das Potenzial und die Hürden von KI. Und über die Vision einer idealen Gesundheitsversorgung in der Schweiz.

PwC: Herr Wustrow, welchen Beitrag leistet die Telemedizin und damit OnlineDoctor zum Gesundheitssystem?

Philipp Wustrow: Die Telemedizin bringt vielseitige Vorteile mit sich. In erster Linie trägt sie dazu bei, Wartezeiten wesentlich zu reduzieren und Versorgungsengpässe gerade in strukturschwachen Regionen zu mildern. Im Weiteren kann sie einen substanziellen Beitrag zur nachhaltigen Kostensenkung im Gesundheitssystem leisten. Der digitale Weg zum Facharzt verursacht in der Regel deutlich geringere Kosten als der physische Arztbesuch. Zudem lassen sich unnötige Arztbesuche vermeiden und Krankheiten frühzeitig erkennen. Zusätzlich ermöglicht Telemedizin eine einfachere Kommunikation zwischen Arzt/Ärztin und Patient:in, was die Therapietreue und damit den Therapieerfolg verbessern kann.   

Bitte führen Sie die Lösungsansätze für die Versorgungslücke in der Dermatologie aus.

In der Schweiz müssen Patient:innen teilweise mehrere Wochen oder Monate warten, bevor sie einen Termin in der Hautarztpraxis erhalten. Zudem ist der Anfahrtsweg zur nächstgelegenen Praxis nicht selten weit. Mit unserer Lösung adressieren wir beide Herausforderungen. Bei OnlineDoctor warten Patient:innen durchschnittlich lediglich sieben Stunden auf eine fachärztliche Diagnose und Handlungsempfehlung, die sie ortsunabhängig erhalten. In über 85 Prozent der Fälle ist ein physischer Termin in der Praxis nach einer teledermatologischen Konsultation nicht mehr notwendig. Falls Patient:innen einen Vor-Ort-Termin benötigen, erhalten sie diesen innerhalb von wenigen Tagen. Damit verkürzt sich die Wartezeit in Abhängigkeit des Bedürfnisses. Mit OnlineDoctor verbinden wir die digitale und physische Welt miteinander und vergeben Termine bedürfnisgerecht.

OnlineDoctor hat 2022 das Start-up «A.S.S.I.S.T» übernommen. Dieses kann mithilfe von KI 30 verschiedene Hauterkrankungen mit einer Genauigkeit von 85 Prozent erkennen. Welche Anwendungsfälle versprechen Sie sich davon?

Aktuell arbeiten wir zwei Anwendungsfälle aus: Der erste ist ein Supporttool für Dermatolog:innen. Damit wollen wir die digitale Diagnosequalität verbessern und die digitale Fallabschlussquote ohne erforderlichen Vor-Ort-Facharzttermin von 85 Prozent weiter erhöhen. Beim zweiten Anwendungsfall möchten wir die KI als Filter- und Triage-Tool einsetzen. Wenn die KI bei einer Anfrage im dermatologischen Kontext weiss, dass diese Person zu über 90 Prozent beim Facharzt vor Ort landen wird, schickt die KI die Person erst gar nicht in die teledermatologische Behandlung. In diesem Fall wird direkt der physische Kontakt mit einer ärztlichen Fachperson hergestellt. Wie auch immer die Anwendung aussieht, das Tool fällt selbst keine abschliessende Diagnose. Die KI-Einschätzung wird in einem zweiten Schritt immer von einer ärztlichen Fachperson bewertet.

Allgemein ist unsere KI noch nicht operativ im Einsatz, da sie zunächst noch zertifiziert werden muss. Hinsichtlich der dazu notwendigen Forschungsstudien befinden wir uns mit führenden Universitätskliniken im Planungsprozess.

Fabian Ringwald

Dr. oec. HSG Philipp Wustrow studierte Betriebswirtschaft an der HSG. Während seiner Promotion an der Universität St. Gallen spezialisierte er sich auf digitale Gesundheit und Entrepreneurship. So kamen diverse Weiterbildungsprogramme für Führungskräfte zustande. In diesem Rahmen lernte er den Dermatologen Dr. Paul Scheidegger kennen. Gemeinsam mit ihm und dem Gesundheitsexperten Dr. Tobias Wolf gründete er die OnlineDoctor AG. Aktuell sind Wustrow und Wolf für die strategische Weiterentwicklung des Start-ups zuständig.

«KI ersetzt den Arzt oder die Ärztin nicht. Aber sie ersetzt jene Ärzt:innen, die KI nicht anwenden.»

Welche Risiken sehen Sie beim Einsatz von KI?

KI ist in erster Linie ein enormer Fortschritt für das Gesundheitswesen. Denn damit verfügen wir über sehr viel mehr Daten, um Diagnosen zu stellen und eine optimale und individuelle Therapie einzuleiten. Das bedeutendste Risiko sehe ich darin, KI nicht anzuwenden. Denn sie gehört zu den grössten Chancen, den «Risikofaktor Mensch» zu minimieren. KI ersetzt den Arzt oder die Ärztin nicht. Aber sie ersetzt jene Ärzt:innen, die KI nicht anwenden.

Gleichzeitig dürfen wir Gesundheitsakteure nicht naiv oder übereuphorisch vorgehen. KI ist stets das Produkt der zugrundeliegenden historischen Datensätze. Dabei gilt es bspw., auch ethische Aspekte zu berücksichtigen. Wir müssen sicherstellen, dass KI nicht diskriminiert; Stichwort geschlechtsspezifische Vorurteile. Die historischen Datensätze können geschlechterbezogen zu Verzerrungseffekten führen, etwa wenn nur männliche Probanden in eine Studie einbezogen werden und deren Resultate 1:1 auf Frauen übertragen werden. KI ist nur so gut wie die Daten selbst.

Eine weitere Herausforderung besteht in der Zertifizierung von lernenden und sich verändernden Medizinprodukten. Diese ist im Rahmen der bestehenden Gesetzesgrundlagen zum Teil nicht möglich. Hier muss sichergestellt sein, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen dem Fortschritt nicht hinterherhinken.

Welchen markt- und industriespezifischen Herausforderungen stehen Sie mit OnlineDoctor im Rahmen der digitalen Transformation gegenüber?

Zum einen sehe ich die Erstattungsfähigkeit digitaler Gesundheitsdienstleistungen. Patient:innen nehmen üblicherweise jene Dienstleistungen in Anspruch, die von der Krankenkasse getragen oder zumindest teilweise zurückerstattet werden. Derzeit ist unser Angebot in der Schweiz, im Gegensatz zu Deutschland, primär selbstzahlend. Es zielt auf Patient:innen mit hoher Franchise oder hohem Selbstbehalt ab. Unsere Lösung ist ökonomisch attraktiver als ein physischer Besuch bei der ärztlichen Fachperson. Demnach besteht eine Herausforderung mittelfristig darin, als TARMED-Position klassifiziert zu werden.

Als zweite Herausforderung sehe ich den zeitlichen Aufwand bei der Einhaltung komplexer rechtlicher und regulatorischer Anforderungen. 2022 wurde über OnlineDoctor das erste E-Rezept der Schweiz regelkonform eingelöst. Damit sich alle Anforderungen erfüllen liessen, war eine grosse Vorarbeit nötig und eine enge Zusammenarbeit diverser führender Gesundheitsanbietender. Hierbei waren wir auf eine Art «rechtsgestaltend» unterwegs. Der enorme zeitliche Aufwand und die oft nicht praktisch nachvollziehbaren Anforderungen verlangsamen den Fortschritt. Insgesamt braucht es Geduld, um unser Gesundheitssystem im Sinn der Digitalisierung zu revolutionieren. Verkrustete Strukturen müssen aufgebrochen werden, um Raum für echte Innovationen und neue Denkansätze zu ermöglichen.

Schliesslich muss sich die Mentalität im Gesundheitswesen verändern. Wir müssen lösungsorientierter und weniger problemzentriert denken. Gerade bei den Chancen und Zielen im Bereich der digitalen Angebote sehe ich grosses Potenzial, das aktuelle «Silodenken» zu überwinden.

Sie haben mit OnlineDoctor ein ärztliches Netzwerk mit über 600 Dermatolog:innen aufgebaut. Wie begeistern Sie die Ärzteschaft für Ihre digitale Lösung?

Fachärzt:innen sind stark eingebunden und haben wenig Zeit. Wir konnten den Dermatolog:innen aufzeigen, dass sich ihr Praxisalltag mit OnlineDoctor als Prozessoptimierungstool verbessert. Wir bieten ihnen eine zeitgemässe Plattform, mit der sie ihre Patient:innen sicher und datenschutzkonform behandeln können. Wir stehen im engen Austausch mit unserem Fachärztenetzwerk und stellen sicher, dass die ärztliche Perspektive in der Weiterentwicklung unserer Plattform stets berücksichtigt wird. Im Kern ist OnlineDoctor das Produkt der Ideen und Bedürfnisse unserer Dermatolog:innen. Sie fungieren als «Co-Kreationspartner:innen». Das macht sie von Betroffenen zu Beteiligten. Zudem beruht unser Selbstverständnis darauf, dass es wichtig ist, digitale und physische Welten miteinander zu vernetzen, um daraus hybride Behandlungsmodelle abzuleiten. Der digitale Hautarztbesuch steht nicht in Konkurrenz zum physischen, sondern ergänzt diesen sinnvoll.

Die OnlineDoctor AG ist führende Anbieterin für Teledermatologie in Europa. Das Unternehmen wurde 2016 vom Dermatologen Dr. Paul Scheidegger und den beiden Health-Business-Experten Dr. Tobias Wolf und Dr. Philipp S. F. Wustrow als Spin-off der Universität St. Gallen (HSG) in der Schweiz gegründet. OnlineDoctor beschäftigt 40 Mitarbeitende in der Schweiz und Deutschland. In Deutschland fungiert das Unternehmen als Exklusivpartner des Berufsverbands der Deutschen Dermatologen (BVDD). In der Schweiz unterhält OnlineDoctor Kooperationen mit Krankenkassen wie der CSS, Swica und Helsana. Gegenwärtig kooperiert OnlineDoctor mit 600 Dermatolog:innen. Rund 150 Schweizer Hautärzt:innen befunden täglich Anfragen über OnlineDoctor. Darüber hinaus bieten mehr als 300 Schweizer Apotheken ihren Kund:innen den digitalen Hautcheck von OnlineDoctor über eine Pro-App für Gesundheitsfachpersonen an.

«Wir brauchen ein System, das nicht nur den Status quo optimiert, sondern auch echten Mehrwert für die Zukunft schafft.»

OnlineDoctor positioniert sich als asynchrone Telemedizindienstleistung. Welche Vorteile ergeben sich daraus für die Ärzteschaft?

Wir unterscheiden zwischen synchroner und asynchroner Telemedizin. Synchrone Telemedizin besteht in der Videokonsultation. Die asynchrone Telemedizin ist eine zeitversetzte Kommunikation zwischen Fachärzt:innen und Patient:innen. Auf diese Form haben wir uns mit OnlineDoctor spezialisiert, was den Bedürfnissen der Ärzteschaft entgegenkommt. Denn Ärzt:innen wenden eine synchrone Telemedizin tendenziell weniger an, da diese aus ihrer Sicht oftmals eine Prozessverschlechterung darstellt.

Die asynchrone Telemedizin verbessert den medizinischen Prozess. Fachärzt:innen können eine Anfrage innerhalb von 48 Stunden beantworten. Um die Anfragenden digital zu behandeln und eine Rückmeldung zu geben, können sie Leerlaufzeiten bspw. mittags oder abends nutzen. Die digitale Lösung soll integraler Bestandteil des Praxisalltags werden. OnlineDoctor erlaubt es der Ärzteschaft, Patient:innen digital besser zu triagieren. Die Fachärzt:innen entscheiden selbst, ob sie die Anfragenden heute, morgen oder in vier Wochen wiedersehen. Das ist das Ende des Prinzips «first come, first served».

Die Einführung des EPD kommt nur schleppend voran. Warum?

Die Gründe dafür sind sicherlich vielschichtig. Meiner Ansicht nach ist das EPD zu vage konstruiert. Für Leistungserbringer erscheint es eher mit einer Belastung als mit einer Entlastung verbunden zu sein. Die dafür notwendigen Kapazitäten fehlen. Um eine möglichst breite Akzeptanz des EPD sicherzustellen, sollte dieser Umstand berücksichtigt werden. Das EPD sollte ein Instrument darstellen, das Komplexität reduziert, automatisiert und wirklich vernetzt. Es muss für das Gesundheitssystem mittelfristig Erleichterung und Effizienzgewinne schaffen. Das EPD sollte irgendwann die Fähigkeit besitzen, auf Veränderungen im Gesundheitswesen zu reagieren. Wir brauchen ein System, das nicht nur den Status quo optimiert, sondern auch echten Mehrwert für die Zukunft schafft.

Wie werden sich die Patientenbedürfnisse verändern?

Patientenbedürfnisse sind immer dem Wandel und Zeitgeist unterworfen. Früher war die Arzt-Patienten-Beziehung strikt hierarchisch. Diese hat sich jedoch dynamisiert: Heute begegnen sich Ärzt:innen und Patient:innen auf Augenhöhe. Ärzt:innen stellen für Patient:innen zukünftig nicht mehr «Halbgötter in Weiss» dar, sondern vielmehr Coaches oder Berater:innen mit dienstleistungsähnlichen Zügen.

Hier kommen Partizipation und Adhärenz ins Spiel. Durch eine zunehmend partizipative Kommunikation lassen sich Patient:innen am Behandlungsprozess beteiligen. Ärzt:innen und Patient:innen halten im Rahmen des Behandlungsprozesses an den gemeinsam gesetzten Therapiezielen fest. Therapieentscheide werden auf die individuellen Gewohnheiten und Lebensumstände der zu behandelnden Person abgestimmt und individueller betrachtet.

Immer wichtiger wird zudem die ärztliche Versorgung zu Hause. Dieses Bedürfnis ergibt sich schon allein im Hinblick auf den demografischen Wandel. Die ärztliche Versorgung zu Hause kann durch Telemonitoring von Vitalparametern wie Blutdruck, Atemfrequenz, Pulsfrequenz oder Körpertemperatur stattfinden. Grundsätzlich wird die personalisierte Medizin die zukünftige Versorgung sicherlich mitprägen.

Online Doctor

Wie sieht die digitale Versorgung von übermorgen aus?

Patient:innen wünschen sich den digitalen Zugang zur medizinischen Versorgung. Auch die Vernetzung der Leistungserbringer im Kontext des EPD ist zentral. Diese und der Informationsaustausch von Allgemeinärzt:innen mit Fachärzt:innen, Apotheken, Spitex wird für die Versorgung wesentlich sein. Ausserdem werden Entscheidungen immer stärker auf einer vergangenheitsorientierten Datengrundlage gefällt, womit wir beim Thema prädiktive Analytik wären.

Im Weiteren werden sich Praxisstrukturen verändern. Ich sehe das Aufkommen von sogenannten «Express-Praxen», zum Beispiel in Einkaufszentren. Hier können sich Patient:innen unterwegs untersuchen lassen und müssen nicht extra eine Arztpraxis aufsuchen. Apotheken werden ihr Dienstleistungsspektrum stark ausweiten und sich als «Tor zur Pflege» positionieren. Daneben spielen gerade in versorgungsschwachen Gebieten sogenannte «Gesundheitskioske» perspektivisch eine wichtigere Rolle, wie sie in Deutschland ein grosses Thema sind.

In welchen Gebieten haben digitale Lösungen ebenfalls Potenzial und welche Vision sehen Sie für OnlineDoctor?

Grundsätzlich gibt es fast keine Grenzen. Fast alle medizinischen Gebiete können von digitalen Lösungen profitieren. Entsprechend gibt es auch bereits funktionierende Lösungen, beispielsweise in der Psychiatrie, Kardiologie oder Ophthalmologie. Die Vision von OnlineDoctor sieht die Diversifikation in Fachbereiche jenseits der Dermatologie vor. Da der Teledermatologiemarkt für sich genommen jedoch bereits enorm vielversprechend ist, werden wir zunächst dieses Potenzial ausschöpfen, bevor wir diversifizieren. Aktuell behalten wir unseren Fokus auf die Dermatologie bei.


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