Stellen Sie sich vor: Ein Roboter führt autonom und mit übermenschlich präziser Hand eine komplexe Operation durch. Eine menschliche Fachperson im ärztlichen Dienst überwacht jeden Handgriff. Was einst Science Fiction war, ist längst Realität. Mit dem Da-Vinci-Operationssystem führen Chirurg:innen heute minimalinvasive Eingriffe mit einmaliger Präzision durch.
So sehr neue Technologien faszinieren, so sehr werfen sie Fragen auf: Wie weit kann man der künstlichen Intelligenz (KI) vertrauen? Welche Chancen und welche Gefahren ergeben sich? Liegt die Zukunft der Medizin darin, dass Ärzt:innen KI-gesteuerte Prozesse überwachen?
Mit Fragen wie diesen startete das fünfte Netzwerktreffen der «Female Leaders in Health & Pharma» vom 19. November 2024 in Zürich. Der Event widmete sich der digitalen Transformation und der Nutzung innovativer Technologien wie KI im Gesundheitswesen.
Die digitale Transformation als Gesamtprozess geht weit über einzelne Technologien hinaus. Sie stösst grundlegende Veränderungen in Geschäfts- und Betriebsmodellen sowie der Organisationskultur an. Damit treibt sie die Schaffung neuer, agiler Arbeitsformen voran, mit denen Organisationen die Anforderungen der digitalen Welt erfüllen.
KI ist ein Treiber dieses Prozesses, aber kein Synonym. Während digitale Transformation die strategische Neuausrichtung umfasst, liefert KI die Werkzeuge und Innovationen, um diese Transformation umzusetzen. Demnach ergänzen sich die beiden Konzepte. Das Gesundheitswesen ist geprägt von konservativen Prozessen und einer strengen Regulierung. Beides ist nötig, um im digitalen Zeitalter den Ansprüchen von Patient:innen gerecht zu werden.
Die Gesundheitsbranche steht vor grossen Aufgaben: steigenden Kosten, Fachkräftemangel, alternde Bevölkerung und der Wunsch nach personalisierter Medizin. Hier kann KI einen entscheidenden Beitrag leisten – als Verstärkung von Ärzt:innen, nicht als deren Ersatz. KI übernimmt administrative Aufgaben, steigert die Effizienz und schafft so mehr Zeit für die Patientenversorgung. In der Diagnostik lassen sich mit KI präzise Muster erkennen, etwa für die Bildgebung in der Tumorerkennung. Zudem ermöglicht KI personalisierte Behandlungen, beschleunigt Diagnosen und entlastet das medizinische Personal.
Das Netzwerk für weibliche Führungskräfte im Gesundheitssektor
Sophie Tinz, Corporate Strategy Lead bei der Roche Group, zeigte in ihrem Vortrag auf, wie künstliche Intelligenz die Pharmaindustrie entlang der gesamten Wertschöpfungskette revolutioniert. In der Forschung beschleunigt KI die Wirkstoffentwicklung durch die Analyse grosser Datensätze und die Vorhersage von Zielstrukturen oder Toxizität. In der Produktion und Lieferkette verbessert KI die Qualitätssicherung, erkennt Fehler und optimiert Bestandsmanagement mit prädiktiven Algorithmen. Wenn es um den Marktzugang geht, bietet KI Unterstützung bei der Datenvalidierung und der Analyse von Post-Marketing-Surveillance-Daten. Auch in Marketing und Vertrieb steigert KI die Effizienz, etwa durch Kunden- und Marktsegmentierung oder die Überprüfung von Materialien auf lokale Compliance.
Doch die spannenden Anwendungsfälle von KI beschränken sich nicht nur auf die Pharmaindustrie. Laut Belinda Wenger, Head of Business Development & Implementation bei Medgate Schweiz, wird sie auch eingesetzt, um die Ärzt:innen von administrativen Tätigkeiten zu entlasten. So unterstützt KI im medizinischen Chat: Gibt die Ärztin «Schmerzskala» ein, formuliert die KI daraus die Frage «Wie gross ist Ihr Schmerz auf einer Skala von 1 bis 10?». Ausserdem fasst KI Konsultationen für die Dokumentation zusammen und übernimmt Übersetzungen in Echtzeit.
Prof. Dr. Eva Blozik, Leiterin Versorgungsforschung bei der SWICA Gesundheitsorganisation, machte deutlich, dass ein ideales Versorgungssystem konsequent auf den Nutzen für die Patient:innen ausgerichtet sein muss. In einem wertorientierten Gesundheitswesen arbeiten alle Akteure gemeinsam an Lösungen, die die behandelte Person ins Zentrum stellen. Ein Beispiel dafür ist die intersektoral erarbeitete Patient Empowerment Initiative, die mit einer dynamischen Baserate finanzielle Anreize für höhere Qualität und geringere Mengen schafft. Auch digitale Plattformen wie Compassana und integrierte Versorgungsprogramme wie Disease Management sind Vorzeigebeispiele für die Herbeiführung einer wertorientierten Versorgung.
Die Digitalisierung ist auch hier entscheidend: Sie ermöglicht Qualitätstransparenz, wertbasierte Versorgungsentscheidungen und unterstützt die Vergütung, etwa durch Telemedizin und digitale Gesundheitslösungen.
Einen derart innovativen, patientenzentrierten Anwendungsfall der Telemedizin stellte Belinda Wenger, Head of Business Development & Implementation bei Medgate Schweiz, vor. Die Anwendung nennt sich «Book a Doc» und wird in der Apotheke eingesetzt: Kund:innen können ihr Anliegen zunächst mit der Apothekerin besprechen, die dann eine Telekonsultation mit einer ärztlichen Fachperson organisiert. Diese führt die Behandlung durch und stellt bei Bedarf Rezepte oder Überweisungen aus. Solche Modelle machen die medizinische Versorgung schnell und ortsunabhängig zugänglich.
Trotz der vielversprechenden Möglichkeiten von KI im Gesundheitswesen bleiben erhebliche Herausforderungen bestehen. Diese gilt es zu überwinden oder zumindest zu adressieren, um das Potenzial von KI im Gesundheitswesen auszuschöpfen.
Der datenschutzkonforme Umgang mit sensiblen Patientendaten erfordert strenge Sicherheitsvorkehrungen. Gleichzeitig ist zu verhindern, dass Algorithmen Diskriminierung und Ungleichbehandlungen verursachen. Ein weiteres Hindernis besteht in der mangelnden Erklärbarkeit von KI-Systemen. Ohne Transparenz und Nachvollziehbarkeit ist es schwierig, das Vertrauen von Patient:innen und Fachkräften in diese Technologie aufzubauen. Auch regulatorische Unsicherheiten und hohe Implementierungskosten erschweren die breite Einführung von KI. Noch fehlen klare Richtlinien und die Integration in bestehende Systeme ist teuer.
Die Debatte der Eventteilnehmenden machte deutlich: Der technologische Fortschritt darf die Patientenzentriertheit nicht beeinträchtigen. Digitale Transformation und KI sollen Ärzteschaft und Patient:innen unterstützen, nicht ersetzen. Doch um das Potenzial derartiger Technologien auszuschöpfen, braucht es eine enge Zusammenarbeit zwischen Gesundheitswesen, Technologieunternehmen und Politik.
Der Austausch der «Female Leaders in Health & Pharma» hat Mut gemacht, die digitale Zukunft des Gesundheitswesens aktiv zu gestalten. Eine bessere, vernetzte und patientenzentrierte Versorgung liegt in greifbarer Nähe. Vorausgesetzt, die Akteure treiben den Wandel gemeinsam, interdisziplinär und intersektoral voran.
Technologie im Gesundheitswesen - bereits heute allgegenwärtig
Philip Sommer