Die Umwandlung unseres heutigen, von fossilen Brennstoffen bestimmten Energiesystems in einen Ansatz, der auf erneuerbaren Energien basiert, hat enorme Auswirkungen. Derzeit sind die ausgefeilten und leistungsfähigen Handelsnetzwerke zwischen Produktionsstandorten und Verbrauchern auf Öl und Gas ausgerichtet. Die Entwicklung erneuerbarer «Elektronen und Moleküle» führt jedoch zu neuen Handelsrouten. Im Zuge all dieser Veränderungen dürfte sich die Komplexität und Volatilität der Märkte durch die mögliche Dezentralisierung des aktuellen weltweiten Energiemarkts weiter erhöhen.
In Europa, den USA und Südkorea ebnen umfangreiche Konjunkturpakete, die zur Erholung nach der Pandemie beitragen sollen, auch den Weg zu widerstandsfähigeren Volkswirtschaften und nachhaltigeren Energiesystemen. Diese politischen Faktoren in Verbindung mit einer Neuausrichtung von Investitionen und Technologien haben zu einem Wandel im Energiesektor geführt, wie er seit der industriellen Revolution nicht mehr zu beobachten war.
Dies ebnet den Weg für neue Energiesysteme, die im Laufe des nächsten Jahrzehnts entstehen werden. Früher klar voneinander abgegrenzte Sektoren wie Öl und Gas, Energie und Versorger sowie Chemie werden gemeinsam integrierte Energiesysteme bilden. Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) werden bis 2040 etwa 47 Prozent des Strommarkts auf erneuerbare Energien – vor allem Wind- und Solarenergie – entfallen. Heute beläuft sich dieser Anteil auf 29 Prozent.
Die Internationale Organisation für Erneuerbare Energien (IRENA) prognostiziert, dass der Aufbau der Infrastruktur, die erforderlich ist, um dieses Ziel zu erreichen, bis 2050 weltweit 13 Bio. USD kosten wird. Unseren Schätzungen zufolge dürften sich die Kosten für die Umwandlung der Stromnetzwerke allein in Europa in den nächsten 30 Jahren auf mindestens zwei Billionen USD belaufen.
Die Umwandlung unseres derzeitigen, von fossilen Brennstoffmolekülen bestimmten Energiesystems zu einem Konzept, das auf den erneuerbaren Energieträgern Elektronen und kohlenstofffreien Molekülen beruht, hat enorme Auswirkungen. Diesen Wandel kann man am besten nachvollziehen, wenn man den Weg der Energiemoleküle und -elektronen von der Produktion bis hin zum Verbrauch bzw. zur Nutzung betrachtet.
Heute hängt der weltweite Energieverbrauch noch stark von fossilen Energiequellen ab, und bisher waren die einzelnen Sektoren klar voneinander abgegrenzt. Trotz der bereits in erneuerbare Energien investierten Summen werden immer noch 80 Prozent der Gesamtenergie aus Erdöl, Kohle und Erdgas gewonnen. Aus diesen Rohstoffen werden auch raffinierte Produkte für alle Industriebranchen, das Transportwesen und den Gebäudesektor hergestellt. Dies führt zu einem einfachen, linearen Weg der Elektronen und Moleküle entlang ihrer entsprechenden Wertschöpfungsketten. Heute wird die Energie zur Stromversorgung der Industrie, zur Beheizung von Gebäuden, zum Betreiben von Fabriken und für den Antrieb der meisten Transportmittel überwiegend aus fossilen Brennstoffen gewonnen.
Sobald die erneuerbaren Energien einen grösseren Marktanteil als die fossilen Brennstoffe erreichen, werden die Quellen und Wege der Elektronen und Moleküle allmählich neu organisiert. Erneuerbare Energiequellen werden den Eckpfeiler der Wirtschaft bilden, während fossile Brennstoffe weiterhin allgemein in Sektoren eingesetzt werden, in denen eine Dekarbonisierung schwer umsetzbar ist. Ein Teil der fossilen Brennstoffe wird in Raffinerien zu Treibstoff verarbeitet, im Transportwesen verwendet oder aber Kohlenstoff erzeugen, insbesondere für andere als energetische Anwendungen in der Chemie oder Lebensmittelindustrie. Aus Biomasse und Abfall erzeugtes erneuerbares Biogas wird jedoch die fossilen Brennstoffe in der Wärme- und Stromerzeugung ablösen. Auch die Abtrennung und Wiederverwertung von CO2 wird zu neuen Kohlenstoffmolekül-Pfaden führen.
Elektronen aus erneuerbaren Energiequellen werden die Hauptrolle in diesem fortschrittlichen System spielen. Sie werden den Hauptanteil der Stromversorgung stellen, leistungsstarke Batterien/Akkus aufladen, die zu eigenständigen Stromlieferanten werden, Fabriken mit Strom versorgen sowie Gebäude beheizen und kühlen. Im Zuge der weiteren Umstellung im Transportwesen auf Elektrofahrzeuge werden sie zudem zu einem der wichtigsten Energieträger.
Die endgültige Umstellung auf ein Energiesystem, das zum Grossteil auf erneuerbaren Energien beruht, erfordert einen Quantensprung in der Speicherung von Elektronen und Molekülen, ein Umdenken hinsichtlich der Rolle emissionsfreier Basistechnologien in Bereichen wie Atom- und Wasserkraft sowie Geothermie und erhöhte Flexibilität seitens der Endbenutzer in Bezug auf die Steuerung des Verbrauchs und der Nutzung von Energie.
«Der Energiewandel zwingt alle Unternehmen, Sektoren und Länder, neue Partnerschaften einzugehen. Aufsichtsbehörden müssen Regeln und Rahmenbedingungen schaffen, damit der private Sektor sich entsprechend darauf einstellen kann, und Unternehmen müssen ihre eigenen Ökosysteme entwickeln.»
Die grössere Präsenz von schwankend produzierenden Energiequellen wie Wind- und Sonnenenergie wird für Herausforderungen bei der Anpassung der Stromerzeugung an die Spitzennachfrage sorgen, um eine zuverlässige Energieversorgung in Stosszeiten sicherzustellen. Sie wird zudem zu verstärkten Bemühungen im Hinblick auf die Stromspeicherung, die wirksame Steuerung des Stromverbrauchs und die Erschliessung neuer Energiequellen führen.
Wir rechnen zudem mit einer neuen Landschaft bei der weltweiten Energiegewinnung. Dank der zur Verfügung stehenden Pipelines, Schifffahrtsrouten und Infrastruktur für Öl- und Gastanker sind die ausgefeilten und leistungsfähigen Handelsnetzwerke zwischen Produktionsstandorten und Verbrauchern derzeit primär auf Öl und Gas ausgerichtet. Die Entwicklung erneuerbarer Elektronen und Moleküle wird zu neuen Handelsrouten führen, was erhebliche Neuinvestitionen erfordert.
Im Zuge der Umstellung dieser Energieströme könnte es Marktteilnehmern schwerfallen, das Gleichgewicht des neuen Energiesystems sowie die damit einhergehenden hohen Risiken und die erhöhte Volatilität zu managen. Gleichzeitig dürfte eine Welt, die weniger von Öl und Kohle abhängt, für eine neue geopolitische Dynamik im Energiesektor sorgen. Der politische Druck zur Selbstversorgung und strategischen Autonomie wird weltweit zunehmen. Importabhängige Regionen oder Länder werden bestrebt sein, ihre Abhängigkeit zu reduzieren. Die Komplexität und Volatilität wird durch die mögliche Dezentralisierung des derzeitigen weltweiten Energiemarkts weiter erhöht.
Die neuen Wege der Moleküle und Elektronen werden zu einer grösseren Konvergenz und einem Abbau der traditionellen Schranken zwischen den Energiesektoren führen. Daher müssen Unternehmen verstärkt auf Integration achten – Elektronen und Moleküle miteinander verbinden und ihre Tätigkeit auf breitere Bereiche der Wertschöpfungskette ausweiten. Unternehmen, die keine integrierten Marktteilnehmer werden, müssen ausgehend von differenzierten Fähigkeiten attraktive Nischen finden.
Versorger müssen sich neben ihrer neu erlangten zentralen Funktion als Besitzer von Elektronen eingehender mit neuen Geschäftstätigkeiten befassen. Dazu zählen Datendienste und -analytik, die Finanzierung und Installation von Solar-/Ladelösungen für private Haushalte sowie das B2B-Energiemanagement hinter dem Zähler. Chemieunternehmen müssen sich als Champions der Kreislaufwirtschaft neu erfinden und sich auf das Sammeln, Erzeugen, Auffangen und Wiederverwerten von Molekülen in einem geschlossenen Kreislauf konzentrieren. Auch integrierte Ölunternehmen werden ihr Geschäft transformieren müssen, oft durch Akquisitionen in den entsprechenden Sektoren.
Zumindest in der Frühphase der Marktentwicklung und des Aufbaus der strategischen Infrastruktur ist eine starke staatliche Orchestrierung erforderlich, um auf die Herausforderungen des Wandels des Energiebereichs einzugehen. Doch weder der öffentliche noch der private Sektor können den Wandel zu Netto-Null-Emissionen und zur neuen Energielandschaft jeweils alleine bewerkstelligen. Die Umstellung ist einfach zu komplex und unsicher, und es kommt darauf an, das richtige Ergebnis zu erzielen. Es bedarf gemeinsamer Massnahmen – einer neuen Form der Zusammenarbeit zwischen Staat und Markt.
Die mit der Regierungspolitik und Regulierung beauftragten Entscheidungsträger sollten sich rasch Klarheit über die entsprechenden Rollen des Staates und des Marktes verschaffen und entsprechende Strukturen einführen. Anleger müssen die Risikoprofile bestehender Anlagen nun daraufhin überprüfen, inwiefern sich die neuen Wege der Elektronen und Moleküle auf sie auswirken. Sie müssen allmählich alternative Anlagen für eine zunehmend dekarbonisierte Zukunft weltweit entwickeln, selbst für Bereiche und Marktsegmente, in denen es noch keine verbindlichen Richtlinien gibt.