Wie das OR verlangen auch die internationalen Standards und Swiss GAAP FER die Anwendung des Vorsichtsprinzips. Trotzdem unterscheiden sie sich grundlegend von den Vorschriften des OR, da sie eine faire Darstellung der finanziellen Lage eines Unternehmens anstreben. Das OR als nationale Gesetzgebung stellt das Vorsichtsprinzip in den Mittelpunkt, um den Gläubigerschutz sicherzustellen. Es erlaubt stille Reserven aufgrund von Abschreibungen und Rückstellungen, die in der Regel höher ausfallen als bei den anderen Standards. Abschlüsse nach OR sind zudem deutlich weniger detailliert.
Auswirkungen des revidierten OR
Das Schweizer Parlament verabschiedete Ende 2011 die Revision des Rechnungslegungsgesetzes. Die neuen OR-Bestimmungen sind rechtsformenunabhängig, jedoch grössenspezifisch. Sie traten am 1. Januar 2013 in Kraft und müssen 2015 zum ersten Mal bei Einzelabschlüssen und 2016 bei konsolidierten Abschlüssen angewendet werden. Das revidierte OR beeinflusst die Einzelabschlüsse der börsenkotierten Muttergesellschaften. Es gibt zwei Änderungen, die sich möglicherweise einschneidend auswirken.
- Darstellung von eigenen Aktien. Diese wurde jener von IFRS und Swiss GAAP FER angepasst. Eigene Aktien sind künftig als Abzug vom Eigenkapital und nicht mehr als Vermögenswert mit einer Reserve im Eigenkapital auszuweisen.
- Bewertung von Vermögenspositionen wie Beteiligungen. Diese konnten früher als Gruppe bewertet werden. In Zukunft haben sie im Regelfall als Einzelbewertungen zu erfolgen.
Die neue Darstellung der eigenen Aktien wird teilweise zu einer deutlichen Senkung des Eigenkapitals führen. Hingegen muss sich erst noch zeigen, ob die Einführung der Einzelbewertung einen einschneidenden Einfluss auf die veröffentlichten Jahresberichte der börsenkotierten Muttergesellschaften hat. Erst wenige kotierte Gesellschaften wendeten bereits für die Jahresrechnung 2014 in ihrem publizierten Einzelabschluss das neue Rechnungslegungsrecht an.
Das revidierte OR stellt zusätzliche Anforderungen an grössere Unternehmen. Diese Vorschriften sind von jenen der ordentlichen Revision abgeleitet und gelten für Firmen, auf die zwei der drei 20/40/250-Kriterien in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zutreffen. Das heisst:
- Die Bilanzsumme ist höher als CHF 20 Mio.
- Der Umsatzerlös steigt auf über CHF 40 Mio.
- Die Zahl der Mitarbeiter beträgt im Jahresdurchschnitt mehr als 250 Vollzeitstellen.
Grössere Unternehmen müssen künftig einen Abschluss nach einem der oben genannten Rechnungslegungsstandards erstellen, falls sie nicht bereits für die Konzernrechnung einen
OR-anerkannten Standard anwenden. Diese zusätzlichen Anforderungen werden in der Praxis nur einen geringen Einfluss haben.
IFRS und US GAAP nähern sich an
Das für IFRS zuständige IASB verabschiedete in den vergangenen Jahren mehrere neue Vorschriften. IFRS 9 beispielsweise formuliert klare Anforderungen an die Bewertung von Finanzinstrumenten. IFRS 10, 11 und 12 passten die Regelungen und Erläuterungen zur Konsolidierung an.
Weitere Neuerungen bei IFRS betreffen die Kriterien zur Umsatzerfassung. Dazu tritt 2018 IFRS 15 («revenue from contracts with customers») in Kraft. Dieser wird bei manchen Firmen zu Umstellungen von Höhe und Zeitpunkt der Umsatzverbuchung führen. Möglicherweise werden die betroffenen Unternehmen dazu ihre IT-Systeme anpassen oder gar ersetzen müssen. Noch nicht abgeschlossen ist die Debatte über die Einführung eines neuen Standards zur Bilanzierung von Leasinggeschäften. Dieser wird voraussichtlich eine (je nach Branche massive) Erhöhung der Bilanzsumme bewirken, weil die Nutzungsrechte als Vermögenswert und Finanzschuld erfasst werden müssen.
Die internationale und die Schweizer Finanzberichterstattung haben sich im letzten Jahrzehnt stark weiterentwickelt. Der bedeutendste Trend liegt in der wachsenden Konvergenz zwischen IFRS und US GAAP. IFRS basierte ursprünglich auf Rechnungslegungsprinzipien, während US GAAP vor allem aus Regeln bestand. Zwar gibt es immer noch markante Unterschiede zwischen den beiden Positionen. Doch sie näherten sich einander an, indem jede Elemente und Eigenschaften der anderen übernahm.
IFRS ist der weltweit am weitesten verbreitete Standard. Er ist im europäischen Kontinent verwurzelt, wird heute aber auch auf anderen Kontinenten angewendet, insbesondere in Asien und Australien. Seine Vormachtstellung kam zustande, weil die amerikanische Börse seit 2007 für nicht amerikanische Gesellschaften Abschlüsse nach IFRS ohne Überleitung auf US GAAP erlaubt. In vielen Ländern ist IFRS mittlerweile auch für nicht börsenkotierte Gesellschaften zugelassen.
Unterschiedliche Transparenzgebote
IFRS enthält einige Transparenzgebote, die viel detaillierter sind als jene von Swiss GAAP FER und OR. So schreibt beispielsweise das OR die Offenlegung von Verbindlichkeiten gegenüber Vorsorgeeinrichtungen vor, während IFRS zum Thema Pensionskassen und -stiftungen zahlreiche detaillierte Angaben verlangt. Die von IFRS eingeforderten Informationen können mehrere Seiten umfassen und sind für Laien kaum verständlich. Damit stellt sich die Frage, ob die Kernaussagen anhand einer solchen Fülle an Informationen einfach zu identifizieren sind. IFRS schreibt zudem vor, sämtliche von der Muttergesellschaft kontrollierten Gesellschaften in den Konsolidierungskreis einzubeziehen. Demnach werden auch Stiftungen und Pensionskassen, die nach Schweizer Recht unabhängige Gesellschaften sind, in der Konzernrechnung abgebildet. Diese wirtschaftliche Betrachtungsweise ist zwar international gängig, setzt sich jedoch über die jeweilige lokale Rechtsordnung hinweg.
Problematisch kann die Pflicht zur Offenlegung von Rückstellungen für laufende Rechtsfälle sein. Aus den veröffentlichten Prozessrückstellungen kann die Gegenpartei möglicherweise erkennen, was die Geschäftsleitung vom Prozessverlauf erwartet. Die zur Publizität verpflichtete Gesellschaft muss also unter Umständen einen prozesstaktischen Nachteil hinnehmen. Zudem hängen die Höhe einer Rückstellung und der Zeitpunkt ihrer Verbuchung vom angewendeten Recht oder Standard ab. Häufig wird eine Prozessrückstellung nach OR zu einem früheren Zeitpunkt verbucht als nach IFRS.
Diese beiden Beispiele zu den unterschiedlichen Transparenzgeboten zeigen, dass die verschiedenen Rechnungslegungsstandards und Rechtsvorschriften nur beschränkt vergleichbar sind. Bei der Wahl des Standards für die eigene Jahresrechnung sollte eine Geschäftsleitung dieser Tatsache Rechnung tragen.
Abweichende Aussagen
Jede Änderung im gewählten Rechnungslegungsstandard beeinflusst die Tätigkeit in der Unternehmensführung. Der Verwaltungsrat muss sich mit den neuen Vorschriften befassen, da die Erstellung eines Jahresberichts zu seinen unübertragbaren und unentziehbaren Aufgaben gehört. Ebenso ist seine Aufgabe das Rechnungswesen sowie die Finanzkontrolle und -planung auszugestalten und den Geschäftsbericht zu erstellen. In seinen Aufgabenbereich fällt zudem die kritische Durchsicht und Genehmigung der Jahresrechnung sowie des Geschäftsberichts inklusive Finanzteil.
Eine Analyse von Geschäftsberichten zeigt, dass vermehrt finanzielle Kernbotschaften kommuniziert werden. Dabei werden Kennzahlen verwendet, die im geprüften Abschluss so nicht offengelegt werden dürfen. Ein Beispiel: Gesellschaften in der Pharmaindustrie rechnen die Abschreibungen auf immateriellen Vermögenswerten oft aus ihrem Kernergebnis heraus. Damit wollen sie den unterliegenden Geschäftsverlauf verständlicher darlegen. Die Unternehmensverantwortlichen sind der Meinung, dass die Erfolgsrechnung, die Abschreibungen enthält, und die Geldflussrechnung, die von den Abschreibungen nicht betroffen ist, den Geschäftsverlauf zu wenig klar aufzeigen.
Wenn Diskrepanzen zwischen den Aussagen im erläuternden Teil des Geschäftsberichts (vgl. Lagebericht) und jenen im Finanzteil entstehen, sind zusätzliche Erläuterungen nachzuliefern. Falls sich der Trend zu individuellen finanziellen Kernbotschaften ausserhalb des geprüften Finanzberichts fortsetzt, wird es mit der Zeit nicht mehr möglich sein, Firmen und deren Strategien miteinander zu vergleichen. Ausserdem wird auch das Ziel der Finanzberichterstattung infrage gestellt: Transparenz schaffen. Diese geht verloren, wenn ein dichtes Regelwerk mit detaillierten Angaben nicht mehr genügt und eine Gesellschaft Angaben definieren muss, um den Geschäftsverlauf verständlich darzustellen. Finanzanalysten, Investoren und andere interessierte Leser werden damit überfordert sein. Nur noch die nach den gleichen Standards und Angaben verfassten Finanzberichte werden mit geringem Aufwand vergleichbar sein.